Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
Sprechstundenhilfe Frau Ruth, wie sie von allen genannt wurde, arbeitete schon seit einer halben Ewigkeit hier und wusste über die Zipperlein des halben Dorfes Bescheid. Wobei sie mit den ihr anvertrauten Informationen nicht immer diskret umging.
»Ja, Herr Kluftinger«, sagte sie, als er vor ihrem Tresen stand, »das wird heute was Längeres, oder?«
Der Kommissar zog die Brauen zusammen und sah die Frau forschend an.
Was Längeres?
Wusste sie mehr als er?
»Hm?«, hauchte er vorsichtig.
»Na ja, so was kann schon langwierig sein – je nachdem, was rauskommt, gell? Dann sehen wir uns ja vielleicht jetzt öfter. Wenn Sie noch im Wartezimmer Platz nehmen, der Doktor hat gleich Zeit für Sie. Er hat Ihnen extra den Vorrang gegeben – wenn Sie schon mal freiwillig kommen, müsste es ziemlich ernst sein, hat er gesagt!«
Irgendwie wurde Kluftinger das Gefühl nicht los, einen besorgten Unterton aus ihrer Stimme herauszuhören. Dann stellte sie ihm einen Becher hin.
»Danke, ich mag jetzt nix trinken.«
Sie schaute ihn amüsiert an. »Das kann schon sein, aber ich bräuchte etwas Flüssigkeit von Ihnen. Danach einfach in die Klappe zum Labor stellen.«
Er wurde rot. »Ach ja, freilich …« Schnell schnappte er sich das Gefäß und ging damit auf die Toilette.
Als er so dastand, den Becher in der richtigen Höhe haltend und auf den ersten Tropfen wartend, kam allerdings nichts. Da auch alles Walken, Ziehen und Drücken erfolglos blieb, warf er den Becher in den Papierkorb und schlich sich schuldbewusst an der Sprechstundenhilfe vorbei.
Er betrat das Wartezimmer mit einem gemurmelten »G’ß Gott«, was die drei anderen Patienten ähnlich nuschelnd erwiderten: ein junger Mann, ein älterer Herr und eine Mutter mit Säugling in einem dieser Tragetücher. Er suchte sich den Platz aus, der am weitesten von allen anderen entfernt war. Kaum saß er, brach der ältere Herr in einen rasselnden Husten aus.
Priml,
dachte Kluftinger,
wer hier nicht schon krank reinkommt, geht als Patient wieder raus.
Er griff sich willkürlich eine Zeitschrift, die auf dem gläsernen Tischchen in der Mitte des Zimmers lag. Im Schutz des aufgeschlagenen Magazins sah er sich um. Zumindest von dem jungen Mann drohte keine Ansteckungsgefahr: Er trug eine aufwendige Knieschiene, neben ihm lehnte ein Paar Krücken.
Kluftinger schaute das erste Mal auf die Uhr: Diese öde und sinnlose Warterei in Arztpraxen. Er verstand nicht, warum man die Patienten nicht so bestellen konnte, dass möglichst wenig Lebenszeit vernichtet wurde. Gelangweilt wanderte sein Blick auf eines der Bilder an der Wand. Er wusste, dass es Urlaubsfotos des Doktors waren, denn die meisten hatte er schon bei dessen gefürchteten Heim-Diaabenden gesehen. Hier dominierten Bilder von einer Reise nach Afrika: Auf einem war der Doktor sogar selbst zu sehen, umringt von dunkelhäutigen Menschen, die fröhlich lachten. Sicher über Langhammers Tropenkleidung samt Safarihut, schoss es Kluftinger durch den Kopf. Dieser Gedanke ließ sogar den Anflug eines Lächelns über seine Mundwinkel huschen. Doch schon als er ein Stück weiter blickte, verflog dieses Lächeln wieder: Eine Schautafel zum Thema Herz-Kreislauf-Erkrankungen prangte wie ein Warnschild an der Wand. Sie wies mit Darstellungen von verstopften Blutgefäßen, verfetteten Herzen und einer Ernährungspyramide in bunten Farben auf die Gefahr zu hoher Cholesterinwerte für Leib und Leben hin. Kluftinger seufzte und widmete sich wieder seiner Illustrierten. Erst jetzt bemerkte er, was er sich da überhaupt gegriffen hatte: Es handelte sich um das »Adelsspecial« der »Aktuellen Post«.
Priml,
das war ja genau sein Interessensschwerpunkt. Fahrig blätterte er die ersten Seiten durch. Jedem der europäischen Fürstenhäuser waren gleich mehrere Doppelseiten gewidmet; die jungen Prinzessinnen waren besonders häufig abgebildet.
Vom rasselnden Husten seines Nebenmanns begleitet, kam eine neue Patientin herein, eine ältere Dame mit weißen Haaren, die einen Stich ins Lila hatten: Berta Grüning. Kluftinger kannte sie flüchtig, sie war eine Bekannte seiner Mutter, die sich wie diese bei den Landfrauen engagierte. Er nickte der Frau zu und senkte seinen Blick wieder auf die Zeitschrift.
Sie setzte sich direkt neben ihn und neigte ihren Kopf ebenfalls über seine Lektüre. Dann sah sie ihn vorwurfsvoll an und räusperte sich noch einmal, bevor sie ihren Blick wieder senkte. Er folgte ihm – und spürte, wie seine Wangen
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