Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
einmal durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz in der Brust, und er revidierte diesen Gedanken sofort. Er beschloss, seine neue Liebenswürdigkeit sogar auf Leute wie Langhammer, Lodenbacher und Richard Maier auszudehnen. In bestimmten Situationen, in denen sie sie auch verdienten.
Der Kommissar sah auf. Es hatte ihn schon das ein oder andere Mal hierhergeführt, wenn er nicht mehr weiterwusste. So existenziell wie heute war sein Bedürfnis, diesen Ort aufzusuchen, jedoch noch nie gewesen. Er blieb schwer atmend stehen. Vor ihm standen die beiden Wallfahrtskapellen im »Gschnaidt«, wie der Weiler zwischen Kimratshofen und Frauenzell hieß. Die zwei Örtchen im Grenzgebiet zu Baden-Württemberg gehörten seit der Gebietsreform zu seiner Heimatgemeinde. Schon als Jugendlicher war er manchmal die Straße hinaufgeradelt, hatte auf der Kuppe sein Fahrrad hingeworfen und eine Kerze angezündet für ein Anliegen, das ihn umtrieb. Die kleinen Gotteshäuser hatten ihn seit jeher in ihren Bann gezogen: das größere mit dem prächtigen dreiseitigen Altar und den Votivtafeln, das kleinere, bescheidenere mit dem einfachen Kruzifix und all den Zeichen, volkstümlichen Glaubens an Wunder und die helfende Kraft der Heiligen.
Dabei ging es gar nicht um bloße Religiosität. Es waren viel mehr Orte, die ihm die Möglichkeit boten, sich auf sich selbst zu besinnen. Und das Ritual des Entzündens einer Kerze als äußeres Zeichen eines inneren Entschlusses half ihm immer ungemein.
Doch es war noch etwas anderes, was die Faszination dieses Ortes ausmachte, eine düstere, angsteinflößende Seite. Die ging allerdings nicht von den Kapellen aus, sondern vom »Wald der Sterbekreuze«: Nach altem Brauch brachte man aus der Umgebung die hölzernen Grabkreuze hierher, um die Erinnerung an die Verstorbenen noch länger wachzuhalten und für deren Aufnahme in den Kreis der Unsterblichen zu bitten. Heute gemahnten ihn die unzähligen Kruzifixe ganz besonders an die eigene Vergänglichkeit. Sein Interesse, dass schon bald eines mit seinem Namen dazukäme, tendierte gegen null. Nein, so schnell würde er sich nicht kleinkriegen lassen. Er wollte leben, musste leben, würde leben.
Und auf einmal kniete er sich hin und begann zu beten. Es war ein Dankgebet, aber auch ein Versprechen. Dass er eine Chance verdiente. Ein anderer werden könnte.
Er hätte nicht sagen können, wie lange er in dieser Position verharrt hatte. Irgendwann bekreuzigte er sich, stand auf, spürte eine leichte Beklommenheit in der Brust, ein Kribbeln in seinen eingeschlafenen Waden. Na und? Er war nicht mehr der Jüngste, aber zum alten Eisen gehörte er deshalb noch lange nicht. Und als er drei Kerzen anzündete und zu den anderen auf das schwarze Metalltischchen stellte, wurde er erfüllt von einem unbändigen Lebenswillen.
Er hatte Mühe, den Fünfzig-Euro-Schein in den kleinen Schlitz am Opferstock zu bekommen, doch schließlich gelang es ihm. Er lächelte zufrieden. Wenn das kein Zeichen war, dass er sich schon geändert hatte: Es tat ihm kein bisschen weh, so viel Geld einfach zu spenden.
Zumindest kaum.
Weniger als unter normalen Umständen jedenfalls.
»Bin dahoim!« Kluftingers Feierabend-Einläut-Ruf klang frischer, kraftvoller als in den letzten Tagen.
Und ganz im Gegensatz zu sonst freute er sich heute, als er sah, dass Besuch da war. Er schlüpfte in seine Fellclogs, öffnete die Tür zum Wohnzimmer und wärmte sich innerlich an einem Bild familiärer Idylle: Auf der Eckbank saßen, in ein angeregtes Gespräch vertieft, seine Eltern, Erika, Markus und Yumiko. Drei Generationen Kluftinger einträchtig beieinander. Na ja, fast schon dreieinhalb vielleicht, denn es war sicher nur noch eine Frage der Zeit, bis Markus und seine Zukünftige …
»Was grinst du denn so debil, Vatter?«, riss ihn Markus aus seinen harmoniegeschwängerten Gedanken.
Kluftinger überlegte kurz. Und entschied sich dann gegen eine ihrer üblichen, von Erika so gefürchteten Reibereien. Er freute sich einfach, dass all seine Lieben zusammen waren – mit allen Widrigkeiten, die das eben so mit sich brachte.
Zudem bedurfte es gar keiner eigenen Erwiderung: »Ja, wie redest du denn mit deinem Vatter?«, fragte Kluftingers Mutter empört, woraufhin Kluftinger senior anfügte: »Bei uns hätt’s des nicht gegeben, da hätt ich ganz schnell eine gefangen von deinem Urgroßvater. Da fehlt’s wohl ein bissle an der Zucht, seitdem du da bei deinem Studium bist, hm?«
Kluftinger
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