Herzen aus Asche
ihr Werk noch nicht beendet hatte.
Amelie setzte sich auf die Matratze, stocksteif und kerzengerade. Sie verlor das Zeitgefühl. Sie wusste nicht, wie lange sie mit pochendem Herzen auf der Bettkante gesessen und mit geweiteten Augen jedes Detail ihrer Umgebung beobachtet hatte, ehe sie wieder etwas ruhiger wurde. Sie traf eine Entscheidung. Sollte noch ein einziges Teil des Inventars zu Asche zerfallen, würde sie augenblicklich das Haus verlassen, dunkler Weg und fehlender Bus hin oder her. Vielleicht sollte sie schon einmal damit beginnen, sich einen Rucksack zu packen, für den Fall, dass sie die Nacht heute außerhalb verbringen musste.
Amelie atmete tief durch und versuchte, wieder zur Besinnung zu kommen. Sollte ihr jemand - oder etwas - schaden wollen, hätte derjenige es längst getan. Imme rhin war sie allein, und niemand hätte sie schreien hören. Sie beschloss, über ihren Schatten zu springen und die anderen Zimmer zu erkunden. Wenn sie sehen würde, dass alles in bester Ordnung war, würde es ihr sicherlich leichter fallen, wieder klar zu denken.
Amelie schaltete in jedem Raum das Licht an, wie sie es auch als Kind i mmer schon getan hatte, wenn ihre Mutter nicht daheim gewesen war und sie die Angst gepackt hatte. Seltsam, dass man sich einbildete, im Hellen könnte einem nichts geschehen, dennoch konnte auch Amelie den Zwang nicht unterdrücken. Als alle Zimmer im Licht alter flackernder Glühlampen erstrahlten, ging Amelie zurück ins erste Geschoss und blieb am oberen Treppenabsatz stehen. Noch immer rührte sich nichts. Ein erneuter Versuch, Leif telefonisch zu erreichen scheiterte jedoch. Sie seufzte und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie ließ ihren Blick durch den staubigen Flur schweifen. Ob der gräuliche Schleier auf allen Möbeln selben Ursprungs war wie die zu Asche zerfallene Tür? Amelie erschauderte ob dieses Gedankens. Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die weiße, mit Stuck verzierte Decke. Ein dunkler Metallring, etwa von der Größe einer Hand, ragte genau aus deren Mitte. Amelie war er nie zuvor aufgefallen. Eine Luke zum Dachboden. Wie ein Blitz schoss ihr in den Kopf, wozu die lange Stange mit dem Haken am Ende gedacht war, die sie tags zuvor in einem Abstellraum entdeckt hatte. Weshalb hatte Leif nie über das zweite Geschoss gesprochen? Amelie hatte bislang geglaubt, es gebe keinen Weg hinauf, und sie hatte auch nie nach einem gesucht. Sie wusste selbst nicht weshalb.
Sie zitterte noch immer, und der Schreck saß tief in ihren Knochen, dennoch wollte sie sich vergewissern, dass kein unerwünschter Mitbewohner - sei er diesseitiger oder jenseitiger Herkunft - auf dem Dachboden hauste. Wie sollte sie heute Nacht ruhig schlafen, wenn sie nicht jeden Winkel der Villa untersucht hatte?
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen stieg sie die Treppe wieder hinab und holte die Stange aus der Bese nkammer. Minutenlang hielt sie sie in der Hand, blickte abwechselnd auf den Haken an deren Ende und zum Metallring in der Decke. Sie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Sie hatte keine andere Wahl, obwohl sie sich fürchtete. Die Ungewissheit, nicht zu wissen, ob dort oben ein Monster auf sie lauerte, war unerträglich.
Sie verankerte den Haken im Ring und zog daran. Knarrend öffnete sich die Luke einen Spaltbreit. Asche regnete von oben herab. Amelie hustete. Eine zusa mmengefaltete Treppe an der Oberseite der Klappe glitt auf sie zu. Sie fing sie mit der Hand ab und platzierte deren Füße auf dem Parkettboden. Zehn schmale Sprossen führten nach oben.
Amelie lehnte die Stange an die Wand und legte den Kopf in den Nacken. Es war stockfinster im zweiten Stock. Ohne Licht wollte sie in keinem Fall hinaufsteigen. Sie zog ihr Handy aus der Gesäßtasche und aktivierte die integrierte Taschenlampe. Der Akku war beinahe leer. Hoffentlich gab es dort oben elektrischen Strom und eine Lampe.
Mit einer schwitzigen Hand umfasste sie die Leiter, mit der anderen hielt sie das Handy vor sich. Dann setzte sie einen Fuß auf die unterste Trit tstufe. Der Impuls, die Klappe wieder zu schließen und die Sache auf sich beruhen zu lassen, war beinahe übermächtig. Doch irgendetwas Seltsames ging im Haus vor, und Amelie würde keine Ruhe finden, ehe sie nicht in jedem Zimmer nachgesehen hatte, ob ein Monster dort auf sie wartete. Lächerlicher Gedanke! Wie ein Zwang konnte Amelie sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben lösen. Sie würde zumindest noch
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