Herzen aus Asche
Unterhaltungen in den letzten Tagen. Er hatte ihr nichts aus seinem Privatleben offenbart, auch hatte er nie wieder über seine Eltern gesprochen, die in diesem Haus gestorben sein sollen. Amelie erschauderte und schloss den Deckel der Truhe. Sie gähnte. Mittlerweile war es spät geworden. Die Uhr auf ihrem Handydisplay ermahnte sie, allmählich schlafen zu gehen, obwohl ihr immer noch unwohl war bei dem Gedanken. Sie nahm sich vor, die Erkundung des Dachbodens auf einen anderen Tag zu verschieben. Er hielt sicherlich noch viele unerwartete Schätze für sie bereit. Und eigentlich tat sie doch nichts, das jemandem schadete, wenn sie sich ein wenig umsah, oder?
Amelie erhob s ich und wollte gerade den Rückweg zur Luke antreten, als der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus und mit einem Mal war die Müdigkeit verflogen. Sie hielt die Luft an, doch nach nur wenigen Sekunden war es vorbei. Hinter sich vernahm sie das wohlbekannte Knistern, das sie heute schon einmal in Panik versetzt hatte. Sie fuhr herum und sah noch gerade, wie die letzten Reste des schmucklosen Bilderrahmens um das Portrait zu Asche zerfielen. Die nackte Leinwand lehnte unbeschädigt an der Wand. Amelie machte einen Sprung nach vorne, sie war sogar bereit, ohne die Leiter zwei Meter in die Tiefe zu springen, nur, um das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Hatte sie sich soeben noch einzureden versucht, dass alles in bester Ordnung sei und die Vorkommnisse eines natürlichen Ursprung herrührten, war sie sich nun sicher, dass das Haus verflucht war.
Ein anderes Geräusch wec kte ihre Aufmerksamkeit, ehe sie sich die Leiter hinabstürzen konnte. Ein an der Decke hängendes Mobile aus Metall klirrte im Luftzug, der von unten durch die Luke heraufwehte. Sie wandte sich ab und trat auf die Leiter, sprang die letzten fünf Sprossen hinab und landete schmerzhaft auf dem rechten Fuß. Sie schrie auf, ließ sich von dem scharfen Stich im Knöchel jedoch nicht davon abhalten, die Treppe ins Erdgeschoss hinunterzurennen. Sie dachte nicht einmal mehr daran, sich eine Jacke überzuziehen, sondern riss die Eingangstür auf. Ein zweiter Schrei entfuhr ihrer Kehle, denn direkt vor ihr stand Leif auf der Schwelle. Sie wäre beinahe mit ihm zusammengeprallt. Er runzelte die Stirn und riss die Augen auf. Amelie warf sich - alle guten Manieren missachtend - um seinen Hals. Sie war so froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Auch heute schienen seine Haare feucht zu sein, sie atmete den Duft von Meerwasser ein.
Leif ließ die Berührung einige Atemzüge lang zu, ehe er Amelie sanft auf Armlänge von sich schob. Ihr e Wangen waren tränennass. Die Erleichterung, ihn hier zu sehen, war größer als die Sorge, er könnte sie für verrückt halten.
»Amelie, was ist denn los?« Er kam über die Schwelle in die Eingangshalle und schloss die Tür hinter sich.
Sie schluchzte und schnappte nach Luft, kaum in der Lage, einen klaren Satz hervorzubringen. »Hier stimmt etwas nicht. Möbel zerfallen von einer Sekunde zur anderen zu Asche, der Boden vibriert und ich habe einfach nur Angst.« Ein erneuter Weinkrampf schüttelte sie. Durch den Tränenschleier sah sie nur verschwommen, wie Leifs Gesicht immer blasser wurde. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Seine Berührung war kühl und fühlte sich seltsam fremd an.
»Es ist ein altes Haus, auch das Interieur ist älter als wir beide zusammen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass du dich fürchtest. Vielleicht ist es keine gute Idee g ewesen, einer jungen Frau die Aufgabe zu übertragen.« Er sprach ruhig und sah sie aus seinen strahlend blauen Augen mitleidig an, als machte er sich tatsächlich ernsthafte Sorgen.
Amelie schniefte, wischte sich mit dem Handr ücken über das Gesicht und atmete tief durch. Sie zwang sich, die Fassung zu bewahren und nicht erneut in Tränen auszubrechen. »Ich bin für gewöhnlich nicht derart ängstlich, aber ich kann die Villa nicht vor dem Verfall bewahren. Sie scheint sich selbst zu zerstören. Leif, mein Kleiderschrank hat sich binnen weniger Sekunden zersetzt! Was geht hier vor sich? Auf dem Dachboden hat der Boden vibriert, und auch ein Bilderrahmen ist zerfallen. Du musst mir erklären, wie das passieren konnte.«
»Du bist auf dem Dachboden gewesen?«, bellte er sie plötzlich harsch an, ohne auf ihre Worte einzug ehen. Amelie wich eine Handbreit zurück, und Leif schien zu bemerken, dass er überreagiert hatte. Er rang sich ein gequältes
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