Herzen aus Asche
diese eine Nacht in der Villa bleiben müssen, wenn sie den einsamen und dunklen Weg durch Länna heute nicht mehr gehen wollte.
Nach jeder Stufe hielt Amelie inne und lauschte. Kein Geräusch drang von oben an ihre Ohren. Beruhigend.
Si e steckte den Kopf durch die Luke und leuchtete mit dem Handy um sich. Es roch nach Staub, nicht nach Schimmel oder Feuchtigkeit. Das spärliche weiße Licht reichte kaum zwei Meter weit und vermochte die hintersten Winkel des Raumes nicht auszuleuchten. Amelie schätze ihn auf mindestens fünfzehn Meter Länge, vermutlich so lang wie das gesamte Gebäude. In ihrer unmittelbaren Nähe sah sie nichts außer von weißen Staubtüchern verhüllte Möbel, außerdem eine dunkle Eichenholztruhe.
Amelie stieg in den Raum hinein und wagte sich e inen Schritt vor. Der Leuchtkegel ihres Handydisplays fiel auf eine altertümliche Lampe, die an einer der Wände ohne Dachschrägen hing. Sie war im Stil eines gusseisernen Kerzenhalters gefertigt, aber mit einer Glühlampe statt einer Kerze in der Fassung. Eine Schnur hing von dort hinab. Amelie ging zielstrebig darauf zu und zog daran. Die Glühlampe erstrahlte heller als erwartet, vermutlich eine der wenigen mit mehr als 60 Watt Leistung im Haus. Zumindest gab es Strom. Amelie atmete erleichtert auf und steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Sie wandte sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Wie vermutet erstreckte er sich über die gesamte Grundfläche der Villa. Es gab zwei Fenster an der Rückseite des Gebäudes, aber die hatte jemand mit Brettern vernagelt. An der Stirnseite, dort wo auch die Lampe hing, wölbte sich ein Erker nach außen, über dem eine Kuppel thronte. Demnach befand sie sich genau oberhalb der Eingangstür. Es gab drei schmale Fenster im Erker, kaum breiter als eine Hand, aber so fast so hoch wie die Wand.
Die Dachschrägen begannen erst auf einer Höhe von circa einem Meter fünfzig, sodass Amelie mit einer Kö rpergröße von einsfünfundsechzig kaum Gefahr lief, sich den Kopf zu stoßen.
Es war ruhig und friedlich, nichts regte sich. Was ha tte sie auch erwartet? Einen Geist, der die Möbel der Villa zu Asche zerfallen ließ? Sicher gab es eine logische Erklärung für das Desaster im Schlafzimmer. Mittlerweile fühlte sich Amelies Angst von vorhin an wie ein verblassender Albtraum.
Neben einer großen Anzahl in Tücher gehüllter Möbel verteilten sich noch mehrere Kisten über den Boden, keine davon beschriftet. An einer Wand leh nte ein zwei Quadratmeter großes Gemälde. Amelie ging darauf zu, Kunstwerke weckten ihre Neugier seit je her und beinahe hätte sie vergessen, dass sie sich noch vor wenigen Minuten zu Tode gefürchtet hatte. Der Rahmen war schmucklos und bestand aus lasiertem, hellem Holz und erinnerte mehr an eine Fußleiste als ein einen Rahmen. Das Motiv wirkte durch die dicke Staubschicht gräulich und blass. Es handelte sich um das Portrait eines älteren Mannes. Er saß auf einem Sessel, der Rücken gerade, in der Hand eine Pfeife. Amelie wischte mit der Hand den Dreck von der Signatur in der Ecke, aber sie war derart verblasst und undeutlich, dass sie weder einen Namen noch ein Datum erkennen konnte. Mit geübtem Kennerblick datierte sie das Werk auf den Beginn des letzten Jahrhunderts.
Amelie wandte ihre Aufmerksamkeit einer Truhe zu, die noch nicht so alt zu sein schien wie das Bild, wenn man allein die Dicke der Staubschicht als A nhaltspunkt verwendete. Der Deckel war nicht verschlossen und ließ sich leicht anheben. Ein schlechtes Gewissen streifte sie und sie fühlte sich mit einem Mal wie eine Schwerverbrecherin. Hatte Leif nicht gesagt, sie solle das obere Stockwerk nicht betreten? Was sollte sie ihm sagen, wenn er sie hier oben erwischte? Dass sie auf Geisterjagd gegangen war?
Zu oberst lag ein Bogen vergilbtes Papier in der Tr uhe. Eine Kinderzeichung - ein Baum und drei Strichfiguren, vermutlich die Eltern mit einem Kind. Auf der Rückseite stand in krakeligen Buchstaben das Wort Leif . Amelie lächelte und legte das Bild zurück. Daneben enthielt die Truhe noch allerhand Haushaltsgegenstände, unsortiert und ohne Zusammenhang. Töpfe, Besteck, eine Bürste und einen offensichtlich selbstgestrickten Schal. Ganz unten fand Amelie eine Plastikdose mit Legosteinen und das Poster eines ortsansässigen Fussballvereins. Amelie hatte das Gefühl, Leif durch die Entdeckung dieser Gegenstände besser kennen gelernt zu haben als durch all ihre oberflächlichen
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