Herzen aus Asche
Wärme. O bwohl es ein warmer Tag gewesen war, kroch Kälte in jede Faser ihres Körpers. Wenn die Sonne im skandinavischen Sommer auch spät unterging, die Nächte waren kühl, und in der Villa gab es keine Heizungsanlage, nur den Kamin im Salon oder die Holzöfen in einigen Zimmern. Seit dem Vormittag fröstelte Amelie nun schon. Sie fühlte sich nicht krank und konnte sich den Grund für ihre innere Kälte nicht erklären. Seit sie das Café verlassen hatte, überzog eine chronische Gänsehaut ihre Arme und Beine.
Sie streckte die Beine auf der roten Chaiselongue im Wohnzimmer aus und strich mit der Hand über das H exenbrett auf ihrem Schoß. Sie starrte seit mehr als einer Stunde darauf, als lägen darin die Antworten auf all ihre Fragen verborgen. Zumindest konnte sie sich wieder daran erinnern, weshalb ihr die Erwähnung der drei Hügelgräber am Vormittag einen Schauder über den Rücken gejagt hatte. Sie hatte die Erinnerungen verdrängt, doch jetzt stießen sie wieder mit aller Macht an die Oberfläche. Sie hatte das unsägliche Ding zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt bekommen, und während einer albernen Séance auf der Party hatte das Poster der Mona Lisa über ihrem Bett die Gräber erwähnt. Ein Poster! Jeder, dem sie davon erzählt hätte, hätte sie für verrückt erklärt und augenblicklich zum Arzt geschickt, weshalb Amelie zwei Jahre lang geschwiegen hatte. Sie war davon überzeugt gewesen, halluziniert zu haben, doch angesichts der seltsamen Ereignisse der letzten Tage erschien ihr kaum etwas unmöglich. Als sie am Nachmittag in die Villa zurückgekehrt war, war vor ihren Augen ein Stuhl in der Küche zerfallen, innerhalb von Sekunden. Amelie war sich mittlerweile sicher, dass der gräuliche Staub, der in jeder Ritze des Gebäudes klebte, selben Ursprungs war. Obwohl sie auch dieses Mal wieder schreckliche Angst bekommen hatte, war die Panik jedoch ausgeblieben. Unglaublich, dass man sich sogar an solche Dinge gewöhnen konnte!
Amelie legte das Witchboard neben das Sofa, schälte sich aus der Decke und legte einen weiteren Holzscheit nach. In einer Kiste auf der Terrasse hatte sie trockenes Holz g efunden, das schon seit langer Zeit niemand mehr angerührt zu haben schien. Mehr als eine Spinne hatte sie ihrer Heimat berauben müssen, als sie den Metalleimer mit Scheiten beladen hatte.
Flammen leckten an der Oberfläche, es knisterte. Der Kamin war schlecht gepflegt, alte Asche bedeckte den B oden und verhinderte, dass er genügend Luft von unten zog. Immerhin entstammt zumindest diese Asche eines natürlichen Ursprungs , dachte Amelie verbittert.
Sie ließ sich zurück auf das Sofa fallen und wollte sich gerade wieder in die Decke einhüllen, als sie das Knarren der Tür hörte. Ihr Herz machte einen Sprung und sie fuhr mit einem Satz herum. Doch es war nur Leif, der auf der Schwelle stand. Sie hatte weder einen Schlüssel im Schloss der Eingangstür noch seine Schritte g ehört.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er. Heute trug er ein weißes Hemd und eine blaue Jeans, seine Haare wie immer mit Gel oder Wasser nach hinten g ekämmt. Amelie atmete erleichtert auf.
»Du hast ein angeborenes Talent dafür, Leute zu e rschrecken.«
Leif lächelte breit. »Es ist wirklich nicht meine A bsicht.«
»Kannst du nicht anklopfen oder a nrufen, ehe du hier hereinplatzt?« Amelies Verärgerung war nur gespielt, in Wahrheit durchflutete sie ein Gefühl heißer Freude, ihn wiederzusehen.
»Entschuldige, aber ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass jetzt jemand hier wohnt.« Er kam auf sie zu und setzte sich auf die Armle hne des Sofas. »Wie geht es dir?«
Amelie schnaubte und strich sich die Haare aus dem Gesicht, die aus dem l ose gebundenen Knoten gerutscht waren. Weshalb musste er sie gerade jetzt sehen, ungeschminkt und in Jogginghose?
»Abgesehen von der Tatsache, dass ein Stuhl sich in Asche verwandelt hat und mir schon den ganzen Tag lang kalt ist, geht es mir gut.« Sie konnte den leisen Vorwurf in ihrer Stimme nicht verbergen.
Leif wandte den Blick ab und beobachtete die tanze nden Flammen im Kamin. Er sagte eine Weile lang nichts, ehe er tief einatmete. »Ich befürchte, es wird nicht der letzte Gegenstand gewesen sein, der zu Staub zerfällt. Ich möchte nicht, dass das Haus, für das meine Eltern so lange gearbeitet haben, der Zerstörung anheim fällt, aber ich kann es auch nicht verhindern. Zumindest nicht durch etwas, zu dem ich mich im Moment befähigt
Weitere Kostenlose Bücher