Herzen aus Asche
geregelten Alltag nachzugehen, lag ihr mit einem Mal völlig fern.
»Leif, weshalb spukt es hier? Bist du sicher, dass es nichts mit deinen verstorbenen Eltern zu tun haben kann? Bitte, sag mir, was du weißt.« Mehr als ein Flüstern brachte sie n icht mehr zustande, selbst das Sprechen fiel ihr unsagbar schwer. Sie zitterte.
Leif legte die Arme um ihre Schu ltern und zog sie zu sich heran, wie einen Freund, den man seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Amelie sog den Geruch seiner Haare ein. Salzwasser, frische Luft, Sommer.
»Es hat nichts mit meinen Eltern zu tun«, sagte er dicht neben ihrem Ohr. Zögerlich erwiderte sie die U marmung und legte ihre Hände auf seine Hüften.
» Ist es denn der Grund, weshalb du nicht hier wohnen möchtest?« Sanft schob Amelie seinen Oberkörper ein Stück von sich weg, sodass sie ihm wieder in die Augen sehen konnte. Sie fühlte sich ihm verbunden und vertraut, als kannte sie ihn seit Jahren. Er machte etwas mit ihr, das sie sich nicht erklären konnte.
»Ja, aber nicht, weil ich mich davor fürchte. Jedenfalls nicht direkt. Je öfter und je länger ich hier bin, de sto schlimmer wird es. Bald wird nichts mehr vom Haus übrig sein als Staub.« Er griff mit den Händen hinter ihren Kopf und löste die Haarklammer. Ihre ohnehin völlig zerwühlte Frisur fiel in sich zusammen, die Haare lagen schwer auf ihrer Schulter. »Ich sollte mich dafür verfluchen. Ich habe nach jemandem gesucht, dem ich das Haus anvertrauen kann. Ich hatte so sehr gehofft, dann endlich Frieden zu finden. Ich wollte nie wiederkehren. Und dann kamst du.« Er seufzte und machte eine Pause. »Ich sollte jetzt wirklich gehen, ehe der Schaden irreparabel wird.«
Sie wollte den Mund öffnen, um etwas zu sagen, aber er legte ihr sanft einen Finger auf die Lippen und schü ttelte den Kopf. In einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich vom Sofa und ging zur Tür. Er drehte sich nicht noch einmal um.
»Leif, warte!« Amelie sprang auf und hechtet e ihm hinterher, doch als sie in den Flur trat, war Leif verschwunden, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.
Briefe
Amelie hustete, Asche klebte an ihrem Gaumen und bedeckte die Haut an ihren Händen und Unterarmen. Ihre brau nen Haare hatten einen gräulichen Ton angenommen, als wäre sie innerhalb einer Stunde um Jahre gealtert.
Sie legte das Kehrblech beiseite und verknotete den Müllbeutel. Asche, überall Asche! , dachte sie resigniert. Sie klopfte sich den Staub aus der Schürze und hustete erneut. Es war vergebliche Liebesmüh, das Haus zu säubern. Seit fast zwei Stunden putzte, wischte und kehrte sie nun schon die Küche im Untergeschoss. Zwei prall gefüllte Müllsäcke voll Dreck standen neben der Tür. Das Kochgeschirr, das über dem Herd an der Wand hing, blitzte und blinkte, das Mosaikmuster auf dem Boden strahlte in Rot- und Beigetönen. Zumindest für den Augenblick wirkte die Küche wieder bewohnbar, obwohl sie eine Schwermut und Melancholie ausstrahlte, die Amelie ein Seufzen entlockte. Wie lange hatte niemand mehr hier gekocht? Die Ordnung und Sauberkeit, die sie in stundenlanger Arbeit wiederhergestellt hatte, nahm dem Raum seine Heimeligkeit.
Amelie wandte sich ab, nahm je einen Müllbeutel in jede Hand und trug sie nach draußen. Der Müllcontainer hinter dem Haus quoll beinahe über. Amelie grauste schon jetzt vor dem Moment, wenn sie das schwere Ding den ganzen Weg durch den Wald bis hinunter zur Hauptstraße schieben musste. Sie würde Leif bitten mü ssen, ihr dabei zu helfen. Ob er überhaupt Gebühren für die Müllentsorgung zahlte? Sie würde ihn danach fragen müssen ...
Amelie legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Der Himmel war grau und trüb, die Baumwipfel der umliegenden Bäume wiegten sich in einer lauen Sommerbrise, jedoch war es ungewöhnlich still für einen Ort mitten in der Natur. Kein Vogel ließ sein Lied erklingen, und außer den raschelnden Blättern hörte
Amelie nichts.
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy sie aus ihren G edanken riss. Mit zittrigen Fingern und klopfendem Herzen zog sie es aus der Tasche der alten hässlichen Schürze mit rotem Blumenmuster, die sie in der Besenkammer gefunden hatte.
»Hallo?«
»Amelie, es ist drei Uhr nachmittags«, erklang die Stimme ihrer Mutter am anderen Ende.
»Ich weiß, Mama. Dir auch einen schönen Sonntag.« Amelie hatte nicht beabsichtigt, derart harsch zu klingen, doch die Worte waren heraus, ehe sie darüber nachde nken konnte.
»Möchtest du
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