Herzen aus Asche
nicht auf einen Kaffee vorbeikommen? Ich habe dich seit Tagen nicht mehr gesehen. Oder musst du für den Semesterbeginn lernen?«
Amelies Herz machte einen Sprung. Semesterbeginn. Sie hatte es beinahe vergessen. Stattdessen putzte sie eine Küche, die ihr nicht gehörte ...
»Ja, ich lerne«, log sie, hatte sich aber einen Augenblick zu lang Zeit gelassen, um glaubwürdig zu klingen.
»Ich hoffe, du vergisst deine Pflichten und deine Au sbildung nicht.« Der Vorwurf war kaum zu überhören. »Seit du ausgezogen bist, mache ich mir jeden Tag Sorgen, du könntest auf die schiefe Bahn geraten und dich mit zwielichtigen Kerlen einlassen. Du bist seltsam geworden seit du nicht mehr hier wohnst. Himmel, hätte ich dich doch bloß hier behalten!«
»Mama!« Wut stieg in Amelie auf. Während sie tel efonierte, ging sie zurück ins Haus und schlug die Tür hart hinter sich zu. »Hör endlich auf, mich zu bevormunden! Ich weiß, was ich tue. Und ich gerate mit Sicherheit nicht auf die schiefe Bahn.«
»Kind, ich bin doch bloß in Sorge! Ich weiß noch nicht einmal, wo genau du lebst und mit wem. Kann ich dich nicht besuchen kommen, wenn du nachher mit dem Lernen fertig bist? Ich leihe mir Sofias Auto und komme nach Länna. Du kannst mir deine Mitbewohner vorstellen.«
»Auf keinen Fall!« Amelie biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte ihre Mutter nicht anbrüllen, aber die Worte waren ihr herausgerutscht.
»Was ist denn in dich gefahren? Allmählich glaube ich, du treibst dich tatsächlich mit Verbrechern und schlechten Menschen herum. Du bist doch sonst nicht so unverschämt, ich ...« Sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn Amelie legte auf. Eine Kurzschlussreaktion. Sie zitterte am ganzen Körper. Hatte sie es gerade tatsächlich gewagt, ihrer Mutter das Wort abzuschneiden? Übelkeit stieg in ihr auf und Tränen rannen ihr in einem heißen Strom über das Gesicht. Sie tropften auf den Mosaikboden in der Eingangshalle. Amelie starrte auf das Display ihres Handys und erwartete jeden Moment, dass es erneut klingeln würde. Dann würde sie ihrer Mutter versichern, versehentlich an eine Taste gekommen zu sein.
Minutenlang starrte sie das Mobiltelefon an, aber es blieb stumm. Was hatte sie nur getan? Sie würde ihr nie wieder unter die Augen treten können! Es war eine u nüberlegte Handlung gewesen, weil sie sich in die Enge getrieben gefühlt hatte. Sie konnte ihre Mutter nicht hierher einladen. Niemals. Und sie durfte niemals erfahren, dass Leif der einzige Mensch war, der sie in der Villa besuchte. Nicht auszudenken, wie sie toben würde! In ihrer Fantasie stellte Amelie sich vor, wie ihre Mutter wild gestikulierte, sie anschrie und schließlich den Kontakt mit ihr abbrach. Eine übertriebe Vorstellung, aber Amelie malte sich das Horrorszenario in allen Farben aus. Was war nur aus ihr geworden? Das Haus schien ihren klaren Menschenverstand zu vergiften. Früher hätte sie sich nie getraut, einfach aufzulegen. Oder steckte noch etwas anderes dahinter? Tiefere Gefühle, von denen sie wusste, dass ihre Mutter sie niemals bei ihrer Tochter dulden würde? Gefühle für Leif ...
Mit tränenverschleiertem Blick stieg Amelie die Tre ppe zum Obergeschoss hinauf, streifte sich unterwegs die dreckige Schürze ab und ließ sie hinter sich fallen. Ein Schluchzen packte sie. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand. Minutenlang ergab sie sich den Tränen, eine tiefe Traurigkeit und Verzweiflung schüttelte ihren Körper und ließ ihre Muskeln zittern.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden und hemmungslos geweint hatte, doch irgendwann versiegte der Tränenfluss. Ihre Augen brannten und sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Was nutzte ihr die Heulerei? Sie würde mit den Konsequenzen leben mü ssen, so oder so. Vermutlich würde Inger Ivarsson nun Amelies Freunde anrufen und die halbe Welt aufscheuchen um zu erfahren, wo ihre Tochter wohnte. Amelie hoffe, es würde ihr nicht gelingen. Außer Sara, Mikael und Jarik wusste niemand, wo sich die Villa befand, und sie traute ihren Freunden genug Scharfsinn zu, ihrer aufgewühlten Mutter nichts zu verraten.
Amelie atmete tief ein und legte den Kopf in den N acken. Dabei fiel ihr Blick auf die Dachluke, die ins zweite Geschoss hinauf führte. Sie erinnerte sich an ihr Vorhaben, sich noch einmal dort oben umzusehen. Eine willkommene Ablenkung.
Wie von Marionettenfäden getragen holte sie die E isenstange mit dem Haken aus der Besenkammer,
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