Herzen aus Asche
Tempo gegen ihre Rippen. Beinahe vergaß sie, dass sie noch vor wenigen Minuten geweint hatte. Wie ein Magnet hatte irgendetwas sie hergelockt, dessen war sie sich sicher.
Das Mauerwerk schien an dieser Stelle nicht dicker als ein Daumen zu sein. Das Steinquadrat ließ sich mit w enig Druck in der Wand versenken und in einen dafür vorgesehenen Hohlraum zur Seite schieben. Stein kratzte auf Stein. Dahinter kam ein Fach zum Vorschein, nicht tiefer als eine Handlänge. Weshalb sollte jemand so etwas konstruieren? Wenn es sich hätte verschließen lassen, hätte Amelie es für einen Tresor gehalten. Oder hatte derjenige seine Schätze hinter dem davorstehenden Möbelstück in Sicherheit gewähnt? Wenn jemand ein Geheimfach hinter einem Schrank versteckte, musste sich derjenige entweder jedes Mal viel Mühe gemacht haben, um an seine Wertsachen zu gelangen, oder er hatte etwas darin gelagert, das er für einen längeren Zeitraum außer Reichweite bringen wollte.
Im Fach lag ein Stapel aus etwa fünfzehn vergilbten Briefumschlägen verschiedener Größe, sonst nichts. En thielten sie vielleicht Geldscheine? Amelie warf einen Blick über die Schulter um sicherzugehen, dass Leif sie nicht beobachtete. Er hatte die seltene Gabe, sich lautlos anzuschleichen und in den unmöglichsten Momenten wie aus dem Nichts aufzutauchen. Doch dort war niemand, alles war still und friedlich.
Obwohl sie sich wie eine Schwerverbrecherin fühlte, nahm sie die Umschläge aus dem Fach. Weshalb schnü ffelte sie gegen Leifs Willen auf dem Dachboden herum? Der Anflug eines schlechten Gewissens streifte sie, doch es war, als befehle ihr eine weitaus stärkere Macht, die Umschläge zu untersuchen. Konnte Neugier derart groß sein? Amelie bezweifelte es. Sie war stets ein zuvorkommendes, stilles Mädchen mit besten Manieren gewesen. Eine Veränderung ging in ihr vor, aber sie konnte sich den Grund dafür nicht erklären.
Die Umschläge waren allesamt geöffnet worden. Es gab keinen Absender, aber die Adresse der Villa auf der Vorderseite war stets in derselben Handschrift verfasst - blaue Tinte und schmuckreiche Schnörkel an den Buc hstaben. Amelie untersuchte die Briefmarken. Einige Poststempel waren bis zur Unkenntlichkeit verblasst, aber auf einigen glaubte sie das Jahr 1992 erkennen zu können.
Sie atmete tief durch und griff in den Umschlag, der im Stapel ganz unten gelegen hatte. Das Papier war gelb und roch muffig. Er enthielt keinen Brief, nur ein einze lnes Foto, dessen Kanten abgegriffen waren, als hätte es jemand lange Zeit mit sich herumgetragen und immer wieder angesehen. Die Farben waren blass und die Konturen verschwommen. Das Foto zeigte zwei Kleinkinder, unter einem Jahr alt. Sie saßen in je einem Hochstuhl, scheinbar in einer Küche. Das Interieur und die Kleidung der Kinder ließen auf die Achtziger schließen. Das eine Kind blickte mit großen blauen Augen in die Kamera, das andere zur Seite, als hätte etwas dort seine Aufmerksamkeit erregt. Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Blonder Flaum bedeckte ihre Köpfe, beide trugen einen orangefarbenen Latz.
Amelie wendete das Foto. Mit Bleistift hatte jemand Leif & Loan, 1986 darauf geschrieben. Amelie spürte, wie ihr Magen einen Hüpfer machte. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Hastig drehte sie das Foto wieder um und sah genauer hin. Die beiden Kinder trugen den gleichen Strampelanzug. Zwillinge? Es ließ sich kaum leugnen. Leif hatte also einen Zwillingsbruder. Aber hatte er nicht behauptet, ein Einzelkind zu sein? Amelie dachte kurz darüber nach, ihn darauf anzusprechen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Sie wollte vor ihm nicht zugeben, wieder herumgeschnüffelt zu haben. Was machte es für einen Unterschied? Er war schließlich nicht dazu verpflichtet, ihr sein Leben offenzulegen.
Sie steckte das Foto zurück in den Umschlag und nahm den nächsten von unten aus dem Stapel. Diesmal enthielt er einen Brief, in derselben Handschrift verfasst wie die Adresse. Amelie wollte ihn nicht lesen, dazu war sie zu gut erzogen, aber sie konnte sich dem Zwang dazu einfach nicht widersetzen. Ein kurzer Blick, nur ein paar Sätze - das würde doch niemandem wehtun, oder?
Sie überflog die Zeilen. Jemand berichtete davon, dass Loan sich gut entwickelte und sogar schon wenige Schritte laufen konnte. Allerdings sei er ein extrem stilles Kind, gab kaum einen Laut von sich. Der Verfasser erkundigte sich, ob Leif sich ebenso verhielt. Aha. Also lebten die Zwillinge nicht
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