Herzen aus Asche
eigene Schlussfolgerung. Wie konnte sie so etwas in Betracht ziehen!
Leif machte eine wilde ablehnende Ge ste und weitete die Augen vor Entsetzen. »Wer kann das schon wissen? Ich kann den Zustand eines Grenzwanderers nicht verlassen, und längst nicht jede Seele wird nach dem Tod zu einem Geist. Was, wenn ich dich für immer verliere? Das kann ich nicht riskieren.«
»Und wenn du allein gingest?«
»Ich habe schon oft versucht, mit Sjadvir zu sprechen, um auch auf meine Fragen Antworten zu erhalten. Ich kann ihn finden, aber er öffnet sich mir nicht.« Leif zog ebenfalls die Beine auf das Bett und setzte sich im Schneidersitz Amelie gegenüber. Er griff nach ihren Händen, seine Berührung fühlte sich kühl an.
»Wer ist Sjadvir?«
»Ein uralter Geist, der älteste, von dem ich gehört habe. Er ist irgendwann im achten Jahrhundert nach Christus gestorben, während eines Raubüberfalls auf ein englisches Kloster. Er ist sehr weise, aber auch verbittert. Er verlässt sein Jenseits nie, obwohl es ihn - wie alle Geistern - zu den Lebenden hinzieht. Es wäre nicht einmal unwahrscheinlich, dass er mit dir sprechen würde. Seher sind sehr selten, und die wenigsten Geister machen sich die Mühe, nach einem zu suchen.«
»Dann zeig ihn mir. Nimm mich mit.« Amelie strich über seine Wange, seine Bartstoppeln kratzten auf ihrer Haut. »Hast du schon einmal einen Gegenstand aus der Zwischenwelt wieder mit zurüc kgebracht?«
Leif biss sich kurz auf die Unterli ppe, dann griff er in die Tasche seiner dunklen Hose. Er förderte eine Brosche zutage, einen goldenen Schmetterling. »Ich trage sie immer mit mir herum, obwohl sie ins Diesseits gehört. Sie hat meiner Mutter gehört.«
»Also ist es dir sogar schon mehr als einmal gelu ngen?«
Er nickte stumm.
»Dann wirst du auch mich wieder zurückbringen können.« Sie klang nicht halb so selbstsicher wie beabsichtigt. Doch die große Angst, die sie noch vor wenigen Minuten verspürt hatte, hatte nachgelassen. Ihr Herz schlug wieder ruhiger. Sie sehnte sich sogar danach, mit Leif im Jenseits zu verglühen. Nie hatte sie geglaubt, so wenig an ihrem Leben zu hängen. Seit sie Leif kannte, hatte sich ihre Vorstellung vom Tod ohnehin gewandelt, hatte ihren Schrecken verloren. Es erschien ihr nicht mehr wie das Ende.
»Sobald ich merke, dass mir die Situation aus den Händen gleitet, werde ich es sofort abbrechen«, sagte er. Seine Stimme war leise und von Angst gefärbt.
»Einverstanden.« Amelie holte einmal tief Luft und stieß sie als Seufzer wieder aus. »Was muss ich tun?«
»Dreh dich um.«
Sie tat wie ihr geheißen und setzte sich mit dem Rücken zu Leif auf die Matratze, die Beine von sich gestreckt. Er schlang seine Arme von hinten um sie und zog sie sanft zu sich heran, sodass sie mit dem Rücken gegen seine Brust lehnte. Sie versuchte, ihre rasenden Gedanken abzustellen und zu vergessen, auf welch gefährliches Terrain sie sich begeben würden.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie, und kaum dass sie au sgesprochen hatte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie hatte geglaubt, Leif würde ihr ein Zeichen geben, wenn es losging, doch das hatte er nicht getan. Er hatte nicht einmal gezögert, und vielleicht war es besser so gewesen, denn Amelie befürchtete, dass sie ansonsten der Mut verlassen hätte.
Amelie wusste, dass sie sich noch immer auf ihrem Bett befand, glaubte sogar, den nachlassenden Druck von Leifs Körper zu spüren, als er sich in Luft auflöste, Sie sank nach hinten auf die Matratze, war jedoch unfähig, einen einzigen Muskel zu rühren, um ihren Sturz abz ufangen. Ihr Leib würde im Diesseits verbleiben, ebenso wie es Leifs Leib getan hatte, der nun irgendwo in einem einsamen Grab unter der Erde verweste.
Als sie die Augen öffnete, umgab sie Schwärze. Über ihr erstreckte sich ein Gewölbe aus unendlich vielen Lichtern unterschiedlicher Intensität, als blic kte sie in einen Sternenhimmel. Es war weder warm noch kalt, auch wehte kein Wind. Amelie wollte eine Hand heben, stellte aber erschrocken fest, dass sie das nicht konnte. Sie hätte sie in der unendlichen Dunkelheit ohnehin nicht sehen können. Ihr Bewusstsein hatte sich vollständig von allem Körperlichen getrennt, sie atmete nicht einmal mehr. Sie merkte erst jetzt, wie viele Reize stets auf sie eingewirkt hatten, denn hier fehlten sie komplett.
»Hab keine Angst«, hörte sie Leifs Stimme wie aus weiter Ferne. Ohren und Augen funktionierten scheinbar noch, z umindest kam etwas in ihrem
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