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Herzen aus Asche

Herzen aus Asche

Titel: Herzen aus Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narcia Kensing
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tosenden Wind davongetragen wurde.
    »Wie würde dein Jenseits aussehen, wenn du dir eines erschaffen könntest?« Amelie sah zu Leif auf, der seinen Blick in eine unbestimmte Ferne richtete.
    » Ein karibischer Strand. Zwei Palmen ragen nahe am Wasser aus dem Sand. Sie neigen sich einander zu und formen ein Herz.«
    Amelie zog die Stirn kraus. »Du scheinst eine sehr g enaue Vorstellung davon zu haben. Wie kommst du darauf?«
    Leif seufzte, doch es wurde vom Wind verschluckt. »Als ich noch ganz klein war, haben meine Eltern mit mir an einem solchen Ort Urlaub gemacht. Es ist das einzige Bild, das in meinem Gedächtnis haften geblieben ist. Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine wunderschöne Zeit verlebt hatte, aber an mehr als diese beiden Palmen kann ich mich nicht entsinnen. In meinen Träumen ist es das Paradies. Eine unbeschwerte Kindheit.«
    Amelie nickte und senkte den Kopf. Leif tat ihr in di esem Moment unsagbar leid.
    »Sjadvir stammt aus einer Zeit, in der Skandinaviens Küsten noch ein wenig anders aussahen als heute«, fuhr er fort und wechselte das Thema. »Außerdem ist er ein verbitterter und griesgrämiger Mann. Es wundert mich nicht, dass er sich hier wohl fühlt.« Er deutete mit dem Finger auf das Haus in der Ferne.
    »Wenn er schon so alt ist, werden wir ihn dann überhaupt verstehen? Spricht er unsere Sprache?«
    »Ich glaube, er spricht so ziemlich jede Sprache der Welt. Immerhin hatte er lange genug Zeit, sie zu lernen. Er kennt beinahe jeden Geist aus jedem Land der Welt.« Er seufzte und straffte sich. »Lass uns weitergehen. Mir ist zwar nicht wohl dabei, aber jetzt sind wir hier und werden nicht wieder gehen, ohne ihn zu fragen, was dir auf der Seele brennt.«
    Amelie nickte, obwohl sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen ausbreitete. Leif und sie gingen Hand in Hand landeinwärts, dem Haus entgegen, das mit abnehmender Entfernung an Kontur gewann und sich in eine armselige Holzhütte verwandelte. Es kam ihr vor, als hätte sie nur drei Schritte getan, die Landschaft flog schneller an ihr vorüber, als es ihre eigene Geschwindigkeit erlaubt hätte. Doch sie glaubte nicht daran, dass die Gesetze der Physik auch im Jenseits galten. Und so standen sie nur Sekunden später vor einer windschiefen Behausung, obwohl Amelie den Weg aus der Entfernung auf mindestens einen Kilometer geschätzt hätte. Sie wunderte sich nur kurz darüber.
    Leif blieb stehen. Amelie wollte ihn fragen, ob sie a nklopfen sollte, doch die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Die Tür der Hütte öffnete sich knarrend. Vielleicht hatte der alte Sjadvir bemerkt, dass jemand in seinen Traum eingedrungen war.
    Zwar verspürte Amelie keinerlei körperli che Reaktionen wie schweißnasse Hände oder einen beschleunigten Herzschlag, die psychischen Auswirkungen ihrer Nervosität machten sich hingegen sehr deutlich bemerkbar.
    Amelie hatte sich Sjadvir als gebrechlichen alten Mann vorgestellt, doch er hatte rein gar nichts mit einem Greisen gemein. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass Leif gesagt hatte, er sei der älteste Geist, den er kenne, aber das bedeutete natürlich nicht, dass seine körperliche Erscheinung ebenfalls dem voranschreitenden Verfall anheim gefallen war. Sjadvir schien in seinen Vierzigern gestorben zu sein, ein bärbeißiger großer Mann mit grimmigem Blick. Er trug Kleidung aus ungefärbtem Leinen mit Fellbesatz, an den Füßen Lederstiefel. Sein Gesicht war wettergegerbt und verschwand beinahe unter dem dichten Vollbart und den roten lockigen Haaren. Er blieb in der Tür stehen, musterte sie beide mit finsterem Blick und stieß dann ein Knurren aus.
    »Was willst du hier?«, keifte er Leif entgegen. »Geh weg.«
    Amelie bemerkte, dass er einen seltsamen Dialekt sprach. Sie musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen.
    Leif drückte Amelies Hand noch fester. A melie spürte seine Unsicherheit.
    »Meine Freundin möchte dir einige Fragen stellen«, sagte er. Amelie fühlte sich geschmeichelt, weil er sie so genannt hatte.
    Sjadvir stürzte jäh aus der Tür und sprang Leif entgegen. Er stieß mit den Händen gegen seine Brust und schubste ihn nach hinten. Leif ließ Amelies Hand los, und für die Dauer eines Herzschlags flackerte die Szene um sie herum, doch es gelang ihr, sich wieder zu sammeln und sich an Sjadvirs Traum festzuhalten.
    »Du wagst es tatsächlich zurückzukommen und eine Lebende mitzubringen?« Seine donnernde Stimme jagte Amelie Angst ein, doch Leif ließ sich davon nicht

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