Herzen aus Asche
die Küche. Obwohl sie Amelie einen Platz auf einem der Stühle um den großen eckigen Tisch in der Raummitte anbot, blieb sie lieber stehen. Sie wollte der freundlichen Dame nicht die Sitzkissen durchnässen. Frau Forsberg ging eine schmale Wendeltreppe ins obere Stockwerk hinauf. Amelie hörte Schranktüren auf und zuschlagen, vermutlich kramte die Dame in ihren Besitztümern. Amelie fühlte sich beschämt und verloren. Triefnass stand sie in einer fremden Küche, der Kopf schwirrte ihr und der Schock steckte ihr noch tief in den Gliedern.
Während Frau Forsberg noch in der ersten Etage b eschäftigt war, sah Amelie sich um. Eine Küchenzeile aus Kiefernholz, eine Pinnwand über dem hellen Holztisch. Kindliche Zeichnungen und das Foto eines etwa achtjährigen Mädchens steckten mit Reißzwecken daran. Die Küche war so steril und ordentlich wie aus einem Möbelprospekt. Amelie sah nicht einen einzigen Kalkfleck auf der Edelstahlspüle.
Frau Forsberg kehrte mit einem Handtuch und e inem einfachen Sommerkleid unter dem Arm zurück. Sie versicherte Amelie, sie könne es behalten, denn sie habe es seit zehn Jahren nicht mehr getragen. Die Jahre brächten leider auch ihre Pfunde mit sich, sagte sie lachend. Amelie bedanke sich und ließ sich von ihr in ein kleines Gästebadezimmer gegenüber der Küche führen. Es war so winzig, dass Amelie mit den Fingerspitzen die gegenüberliegenden Wände berühren konnte. Sie schloss die Tür hinter sich und streifte ihre nassen Klamotten ab. Zum Glück steckte der Hausschlüssel zur Villa noch immer in der Hosentasche ihrer klitschnassen engen Jeans. Schlimm genug, dass sie ihre Handtasche verloren hatte, und mit ihr das Handy und ihre Papiere.
Mit dem Handtuch rubbelte sie sich Haare und Kö rper trocken. Das Sommerkleid war ein fürchterlich hässliches Teil. Es hatte ein unruhiges rotes Blumenmuster und reichte ihr bis über die Knie. Dennoch war es besser als ihre nassen Sachen. Wäre Amelie mit denen nach Hause gelaufen, hätte sie sich auf dem Weg mit Sicherheit erkältet.
Frau Forsberg bat ihr an, ihre Kleidung im Wäsch etrockner zu trocknen, doch Amelie lehnte unter tausend Dankesbekundungen ab. Sie gab ihr eine Plastiktüte, in der sie ihre Sachen verstauen konnte. Amelie musste der freundlichen alten Dame noch hundert Mal versichern, dass es ihr gut ginge und sie von nun an allein zurechtkommen würde, ehe sie sie endlich gehen ließ.
Séance
Nachdem Amelie das scheußliche Kleid gegen eine fr ische Jeans und ein graues eng anliegendes Top ersetzt hatte, ging sie hinunter in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Sie hatte Hunger, hatte aber vergessen, neue Vorräte zu kaufen. So begnügte sie sich mit dem letzten Schokoladenkeks aus der Packung, die schon seit über einer Woche auf der Anrichte stand. Er schmeckte fad und pappig. Sie seufzte und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, doch er kippte zur Seite. Amelie konnte ihren Sturz gerade noch abfangen, ehe sie mit dem Kopf gegen den Herd geprallt wäre. Sie sprang auf und betrachtete den Stuhl. Zwei Beine fehlten. Mittlerweile gab es kaum noch ein Möbelstück im Haus, das unversehrt geblieben wäre. Amelie fragte sich, ob die Antiquitäten auf dem Dachboden ebenso gelitten hatten. All die wunderschönen alten Sachen - für immer vernichtet. Amelie hatte als Studentin der Kunstgeschichte ein großes Herz für Antiquitäten, und es tat ihr in der Seele weh, nichts gegen die fortschreitende Zerstörung tun zu können. Nur noch morgen, dann würde sie wieder den Großteil ihrer Zeit auf unbequemen Hörsaalbänken verbringen müssen. Ein grausiger Gedanke.
Amelie hängte ihre nasse Kleidung über den letzten scheinbar noch unversehrten Küchenstuhl und ging ins Obergeschoss. Erschöpft ließ sie sich auf das Bett sinken. Sie hatte keine Gelegenheit mehr bekommen, sich mit ihrer Mutter auszusöhnen, und mit jedem Tag, den Amelie sich nicht im Geschäft blicken ließ, wuchs die Kluft zwischen ihnen. Ob sie einen Kampf gegen das Ertrinken als gültige Ausrede akzeptieren würde? Amelie kannte ihre Mutter mittlerweile gut genug. Vermutlich würde sie ihr kein Wort glauben und behaupten, der schlechte Einfluss fremder Männer hätte sie zur Lügnerin werden lassen. Es war eine ausweglose Situation. Amelie fühlte sich, als kämen die Wände immer näher und drohten, sie zu zerquetschen, wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. Sie verspürte den Impuls zu fliehen, einfach alles hinter sich zu lassen und nie wieder
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