Herzen aus Asche
ist, wenn auch nicht im Detail. Das ist eine Menge wert.« Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an, damit er ihr in die Augen sehen konnte. Er beugte seinen Nacken und hauchte ihr einen sanften Kuss auf den Mund. »Es zählt doch ohnehin nur, dass wir uns gefunden haben.«
Amelie schob ihre Hände unter sein Hemd und ve rgrub ihr Gesicht an seiner Halsbeuge. »Kommst du mit mir duschen? Ich fühle mich schmutzig.«
Leif stieß einen Laut aus, der halb wie ein Lachen, halb wie ein entsetztes Schnauben klang. »Auf gar keinen Fall!«
Amelie zuckte ob seines harschen Tonfalls zusammen.
»Ich habe Angst vor Wasser«, fügte er milder hinzu. Amelie warf ihm einen skeptischen Blick zu.
»Ginge dir nicht anders, wenn du ersoffen wärst.«
»Entschuldige, daran hatte ich nicht gedacht. Ich dachte, es würde uns vielleicht gut tun.«
Leif vergrub seine Nase in ihrem Haar. »Das täte es ganz bestimmt, wenn ich noch lebte. Als ich noch Surfen gegangen bin, hätte ich mir wohl nie träumen lassen, dass ich mich einmal vor Wasser fürchten würde.«
E ine Weile lang verharrten sie in Schweigen. Eine Welle der Traurigkeit schwappte über Amelie hinweg, weil sie sich wieder einmal vor Augen hielt, wie unterschiedlich sie und Leif waren. Unwillkürlich begann sie zu schluchzen. Leif hielt sie fest umschlungen, schützte sie mit seinen starken Armen wie ein Käfig. Amelie weinte, weil sie wusste, dass er nicht immer für sie da sein konnte. Er konnte das Haus nicht verlassen, aber Amelie würde nicht umhin kommen, sich bald der Welt dort draußen wieder zu stellen. Sie fühlte sich hilflos. Sie wollte den Moment für immer festhalten, aber es lag nicht in ihrer Macht. Irgendwann würde der Moment kommen, wenn sie den Tatsachen ins Auge blicken und einander Lebwohl sagen mussten. Es wäre egoistisch von ihr, Leif dazu zu verdammen, ihrem körperlichen Verfall beizuwohnen, während er auf immer und ewig in einer verfallenden Villa herumspuken musste. Er schien den Grund ihrer Zerrissenheit zu ahnen, denn er flüsterte ihr immer wieder zu, sie solle sich noch nicht um die Zukunft sorgen. Er versuchte, sie mit seinen Worten zu beruhigen, doch sie vergrößerten Amelies Seelenschmerz nur umso mehr.
Leif wiegte sie in seinen Armen, hielt sie so eng, als wäre er sie, verwundet und allein. Er hielt sie auch noch, als der Tränenstrom versiegte, gab ihr allen Trost, den sie in seiner Kraft und Wärme finden konnte.
Amelie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie wusste nicht einmal, wie spät es gewesen war, als sie erwachte.
»Ich fürchte, ich muss sehr bald gehen«, sagte Leif. Er räusperte sich. Seine Stimme klang vom langen Schweigen belegt. »Im Erdgeschoss hat sich soeben die Badezimmertür in Wohlgefallen aufgelöst. Ich glaube nicht, dass du es begrüßt, von der Toilette aus geradewegs in die Küche zu sehen.«
Amelie musste lächeln, obwohl ihr nicht danach z umute hätte sein können. Sie setzte sich auf. »Wie spät ist es eigentlich? Und welchen Wochentag haben wir überhaupt?« Amelie hatte völlig das Gefühl dafür verloren. Wie lange hatte sie sich in der Zwischenwelt aufgehalten? Rechnete man dort überhaupt mit denselben Zeitmaßstäben wie im Diesseits?
»Es ist Samstag. Ich nehme an, irgendwann um die Mittagszeit .«
Samstag? Am Montag würde Amelie zum ersten Mal wieder zur Universität fahren müssen. Sie fühlte sich schrecklich deshalb. Der Sommer hatte ihr keinerlei E rholung eingebracht.
»Ach du meine Güte. Samstag Mittag. Ich wollte he ute noch ein letztes Mal die Chance ergreifen, mich mit meiner Mutter auszusöhnen.« Amelie sprang vom Bett auf und suchte hastig ihre persönlichen Sachen zusammen, die sie in ihre Handtasche stopfte - das Handy, das Portemonnaie und die Monatskarte für den Bus. Sie wusste, dass sie schrecklich aussah, ungeschminkt und verheult. Wenn sie am Montag in ihren harten Studienalltag eintauchte, würde sich kaum noch eine Gelegenheit ergeben, ihre Mutter zu sehen.
»Ich nehme den Bus in die Stadt und besuche sie im Antiquitätengeschäft. Ich kann es nicht ertragen, dass wir im Streit auseinander gegangen sind. Jarik hatte diesbezüglich recht gehabt. Wenn mir oder ihr etwas geschieht, wären unsere letzten Worte füreinander von Bitterkeit getränkt gewesen. Das wäre furchtbar.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Leif. »Wenn du mich brauchst, rufe mich an. Du hast ja meine Nu mmer.« Er zwinkerte ihr zu, und in der nächsten Sekunde zerstob
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