Herzen aus Asche
Menschenleben schwer wog.
Sie legte das Plektrum in die Mitte des Bretts und legte einen Finger darauf. Kurz überlegte sie, ob sie die Vo rhänge schließen und eine Kerze anzünden sollte, immerhin taten das die Leute in den Hollywoodstreifen auch immer. Sie entschied sich dagegen und schüttelte den Kopf ob ihrer eigenen Naivität. Als ob Geister sich etwas aus Kerzenlicht und Dunkelheit machten!
Amelie versuchte sich zu konzentrieren, was ang esichts ihrer inneren Rastlosigkeit kein einfaches Unterfangen war. Obwohl sie sich lächerlich dabei vorkam, sprach sie laut.
»Wenn ein Geist anwesend ist, bitte ich ihn, sich b emerkbar zu machen.«
Sie wartete minutenlang, aber nichts geschah. Schon schämte sie sich für ihr kindisches Verhalten. Was, wenn Leif sie aus der Zwischenwelt dabei beobachtete? Er würde sie auslachen. Aber das wäre ihr bedeutend lieber gewesen, als sich ganz allein ihrer Hilflosigkeit zu stellen. Sie sehnte sich danach, sich in seine Arme zu werfen und ihm von ihren schrecklichen Erlebnissen zu erzählen - und den neuen Erkenntnissen.
Amelie spürte, wie Frustration und Wut in ihr aufsti egen. »Geist, wer auch immer du bist, stell dich nicht so damenhaft an und komm heraus! Du hast es schon einmal getan, also tu nicht so, als könntest du es nicht!« Ihr Tonfall wurde harscher.
Sie sah darin ihre letzte Chance, in ihren Ermittlungen voranzukommen, und die Idee, genau den Geist herbeizurufen, der ihr vor mehr als zwei Jahren ein seltsames Rätsel gestellt hatte, war auf dem Boden der Verzweiflung gekeimt. Es konnte doch alles kein Zufall sein - die Hügelgräber, die Runen, die alte Beschwörungsformel der Wikinger ...
Amelie stiegen Tränen in die Augen. Trotzig nahm sie den Finger vom Plektrum herunter. Dieses begann just in diesem Moment zuerst langsam, dann immer schneller sich wie ein Kreisel um die eigene Achse zu drehen.
Amelie starrte es an, als berge es die Antworten auf all ihre Fragen. Doch nichts weiter geschah. Das Werk eines Geistes, darin bestand kein Zweifel. Jemand war hier.
»Leif, bist du das?«
Keine Antwort. Das Plektrum stand wieder still und rührte sich nicht mehr.
»Hier bin ich, kleine Seherin.«
Sie hob den Kopf, und beinahe hätte sie einen Schrei ausgestoßen. Sie hatte in den letzten Tagen viel erlebt, das einen psychisch gesunden Menschen in den Wahnsinn hätte treiben können, aber es gab immer noch Dinge, die sie überraschten.
Das Blumenmuster der Tapete an der gegenüberli egenden Wand hatte sich auf sonderbare Weise in Bewegung gesetzt und derart verschoben, dass ein Gesicht aus den abstrakten Blüten entstand. Zwei Rosen bildeten die Augen, ein Blatt die Nase, und zwei geschwungene Linien der Stängel hatten sich zu einem Mund neu zusammengefügt. Amelie hatte als Kind öfters nach bekannten Formen in den Mustern von Tapeten gesucht, aber niemals hatten sich die Formen wie von Geisterhand bewegt und eigenständig etwas Neues geformt.
»Wer bist du?«, fragte sie. Sie gab sich Mühe, sich ihre Angst nicht anme rken zu lassen.
»Jacob Conolly. Ich gehe nicht davon aus, dass du mich kennst. Gleichwohl sind wir uns schon einmal b egegnet.« Die beiden Mundlinien auf der Tapete bewegten sich passend zu seinen Worten. Amelie kam sich seltsam dabei vor, mit einer Wand zu sprechen.
»Sind Sie der Geist, der mich auch damals schon heimgesucht hat?«
»Sehr wohl. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen. Ein Jammer! Es gibt so wenige Seher unter den Menschen.«
»Sind S ie hier, weil ich sie gerufen habe?«
»So könnte man es ausdrücken. Obwohl das seltsame Brett vor dir nichts damit zu tun hat. So lange habe ich darauf g ewartet, mal wieder einen Blick in die Welt der Lebenden werfen zu dürfen, und heute ruft mich endlich eine Seherin zu sich.« Herr Conolly sprach mit eindeutig britischem Akzent.
»Ich wusste gar nicht, dass ich dazu in der Lage bin.«
»Wie furchtbar, dann hat Leif dir wohl nicht viel erzählt?«
»Ich nehme an, Leif weiß selbst nur wenig über sich und das Geistsein. Wer sind Sie, Herr Cololly?«
»Ach bitte, nenn mich doch Jacob.« Das Blumengesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Ich bin Anfang der vierziger Jahre in Schweden gestorben, während eines Besuchs meiner Mutter. Sie müssen wissen, sie ist nämlich Schwedin. Oh wie grausam und ironisch das Schicksal sein kann! Da entkommt man in Liverpool knapp einer deutschen Fliegerbombe und wird stattdessen in Schweden von einer Straßenbahn
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