Herzen aus Asche
seine Erscheinung wie Sand im Wind. Amelies Blick klebte an der Stelle, an der er zuletzt gesessen hatte. Sie ging zum Bett und strich mit der Hand über die Matratze. Sie war nicht einmal warm. Es war, als wäre er nie hier gewesen.
Amelie nahm ihre Tasche, ging hinunter ins Erdg eschoss und betrat das Badezimmer. Leif hatte recht gehabt, von der Tür war nichts als ein Haufen Asche übrig. Amelie stieg darüber hinweg und nahm sich vor, den Schmutz am Abend zur Tür hinauszufegen. Jetzt hatte sie Dringenderes im Sinn.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und kämmte sich die Haare, die sie zu einem losen Knoten im Nacken band. Sie sah noch immer schrecklich aus, und vermutlich würde ihre Mutter behaupten, Amelie ve rwahrlose. Doch sie hatte jetzt keine Zeit mehr zu duschen. Der Antiquitätenladen schloss samstags um 14 Uhr, und sie wollte Inger unbedingt dort erwischen. Ein Zusammentreffen in der Öffentlichkeit minimierte die Wahrscheinlichkeit, dass sie tobte und brüllte.
Amelie nahm den Schlüssel vom Haken, steckte ihn in ihre Hosentasche und rannte zur Tür hinaus, den von Unkraut überwucherten Weg im Vorgarten en tlang und zur Straße hinunter. Sie sah auf die Uhr ihres Handys. 12:30 Uhr. In zehn Minuten würde der nächste Bus nach Uppsala fahren, und die Haltestelle war noch einige hundert Meter entfernt. Sie entschied, eine Abkürzung zu benutzen. Ein breiter Pfad führte direkt am See entlang, er würde nahe der Bushaltestelle in einen kleinen Wald einbiegen und zurück auf die Straße stoßen. Vermutlich hatten ihn viele hundert Schuhe genau zu diesem Zweck ausgetreten, weil Menschen von Natur aus unter Faulheit und chronischer Eile litten und dabei keine Rücksicht auf Hindernisse nahmen.
Während Amelie den Weg zum See hinuntereilte, dachte sie darüber nach, wie sie sich verhalten sollte, wenn sie auf ihre Mutter traf. Sollte sie sich entschuldigen? Oder ihr deutlich zu verstehen geben, dass sie einen Mann liebte und sich in ihren Entscheidungen nicht beirren ließ? Nein, das würde zweifelsohne wieder zu einem Streit führen, und einen solchen versuchte Amelie immerhin zu bereinigen, ehe das neue Semester begann. Vielleicht war es das Beste, erst einmal so zu tun, als sei nichts gewesen. Sie würde ihre Mutter den ersten Schritt tun lassen.
Amelies Lungen brannten, und sie rammte beinahe eine Spaziergängerin, die am Seeufer stand und den Au sblick genoss. Es war ein wunderschöner Spätsommertag, der Himmel war tiefblau und die Luft roch nach Blüten und geschnittenem Gras. Weiden beugten ihre schweren Baumkronen dem Wasser entgegen. Kein Wind wehte, und der See war glatt wie ein Spiegel. Der Weg wand sich dicht am Ufer entlang, und oft kamen Angler hierher, um ihr Glück zu versuchen. An dieser Stelle war die Böschung steil, es ging mehr als einen Meter bergab bis zur Wasseroberfläche. Doch Amelie hatte heute keine Augen für die Schönheit der Natur. Es galt, einen Bus zu erwischen.
Sie hörte ein lautes Knattern hinter sich, wie von e inem Mofa. Sie drehte sich nicht danach um. Das Geräusch wurde immer lauter, und plötzlich merkte sie, wie ihr jemand gegen die Hüfte trat, als sich das Mofa mit ihr auf gleicher Höhe befand. Sie erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf den Fahrer, ehe sie das Gleichgewicht verlor und die Böschung hinunterstürzte. Er hatte sie mit Absicht hinuntergestoßen! Sie hatte sein Gesicht nicht sehen können, denn er trug einen schwarzen Helm.
Das Wasser war so kalt, dass Amelie glaubte, ihr Herz würde stehenbleiben. Der See war tief, sogar so dicht am Ufer. Sie konnte den Grund mit den Füßen nicht erre ichen. Rasch sog sich ihre Kleidung mit Wasser voll, und ihre Handtasche glitt ihr aus den Fingern. Sie versank in den Tiefen und verschwand.
»Hilfe!«, kreischte Amelie. Sie zitterte am ganzen Leib, und der Schreck saß so tief, dass sie kaum in der Lage war, einen Muskel zu rühren. Ihr Kopf tauchte unter, sie schluckte Wasser. Nur mit Mühe gelang es ihr, wieder an die Oberfläche zu stoßen.
»Hilfe!«
Das Gesicht der Spaziergängerin tauchte zwischen dem hohen Gras am Ufer auf. Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Es handelte sich um eine ältere Dame, die kaum in der Lage sein würde, Amelie aus eigener Kraft herauszuziehen.
»Halten Sie durch«, rief sie und verschwand. Amelie war sich nicht sicher, wie lange sie noch gegen das eiskalte Wasser ankämpfen konnte, das sie permanent nach unten zog. Die Böschung war schlammig und
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