Herzen aus Asche
entkommen! Du hast das mächtig vermasselt, meine Dame. Wir hätten ein tolles Team abgegeben. Aber nein, stattdessen hängst du dich an den Hals von Leif, der die untoten Hände nicht von den Lebenden lassen kann. Tse tse tse.«
Amelies Kopf schwirrte ob seines Red eschwalls. »Du weißt also von der Formel, mit der man einem Draug Macht verleihen kann? Und du weißt sogar, wo man sie findet?« Amelie konnte kaum fassen, dass der Geist in der Tapete dieses Wissen mit sich herumschleppte, und dass sie das unverschämte Glück hatte, dass er ihr davon erzählte. »Hättest du mir das nicht schon eher sagen können?!«
»Nun mal langsam, junge Dame. Ich bin nicht wie dein lieber Leif, der einfach so auftauchen kann, wann immer es ihm beliebt. Ich muss von einem Seher ang esprochen werden, um mit ihm in Kontakt zu treten. Hey, glaubst du, es macht mir Spaß, in der Schwärze der Zwischenwelt zu hausen und mich selbst zu bemitleiden? Und ich merke auch jetzt schon wieder, dass es mich dorthin zurückzieht. Ich fürchte, ich werde dich wieder verlassen müssen.«
»Nein, noch nicht!«, rief Amelie, als das Muster der Tapete sich anschickte, wieder seine alten Formen anz unehmen. »Sag mir, wer die Runentafel aus der Mauer genommen hat. Jacob, es geht um Leben und Tod!«
»Für mich kommt ohnehin jede Hilfe zu spät.« Seine Stimme wurde leiser, als würde er aus weiter Ferne zu ihr spr echen. »Einer von deinen Freunden war es, nehme ich an. Es gibt noch einen weiteren Seher. Er hat meine Botschaft von damals verstanden, hat aber einen anderen Geist angelockt, pah!«
Amelies Herz setzte für einen Schlag aus. Was sagte er? Einer ihrer eigenen Freunde soll ebenfalls ein Seher sein? Unmöglich! »Jacob, hast du genauere Informati onen?« Amelie sprach lauter, als würde er sie dadurch besser verstehen. Eine dumme Angewohnheit. Aber Jacob Conolly blieb still, das Muster auf der Tapete zeigte nur die alten Blumenranken, aus denen man nicht einmal mit Fantasie ein Gesicht erkennen konnte. Er war verschwunden.
Amelie blieb noch eine Weile lang reglos sitzen. Sie fand nicht einmal mehr die Kraft aufzustehen, um sich auf das Bett zu legen. Sie sah auf das Witchb oard hinab. Sie wusste, dass diese Bretter nicht das hielten, was sie versprachen. Amelie hätte als Seherin einen Geist jederzeit herbeirufen können, wenn sie gewollt hätte. Sie hätte sich nur besser konzentrieren müssen ... Leif hatte davon selbst nichts gewusst.
Sie ging in Gedanken noch einmal die Fa kten durch, obwohl sie beinahe zu müde war, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Draußen senkte sich bereits der Abend über das Land.
Jacob Conolly hatte aus irgendeinem Grund gewusst, dass in der Kirche bei den Hügelgräbern in Alt-Uppsala ein u raltes Relikt der Wikinger versteckt war. Es handelte sich um die Formel, von der Sjadvir gesprochen hatte. Eine sagenumwobene Beschwörung, mit der man einen Draug herbeirufen und ihm die Macht verleihen konnte, überall und jederzeit ins Diesseits einzugreifen. Der »Nährer«, wie Sjadvir ihn genannt hatte, versprach sich durch den Zauber Unsterblichkeit und die Möglichkeit, sich einen Untoten gefügig zu machen. Allerdings beherrschte laut Volksglauben nur Odin selbst diese Kunst.
Amelie kam ein Gedanke. Vielleicht war die B eschwörung aufgrund der Inkompetenz des Anwenders in die Hose gegangen und Loan hatte ein unangenehmes Eigenleben entwickelt. Damit hätte sich auch geklärt, welchen Nutzen der Nährer davon hatte, Loan seine Rache ausüben zu lassen - nämlich gar keinen. Alles fügte sich nun zusammen. Aber konnte Jacob wirklich recht haben? Konnte einer von Amelies Freunden dahinterstecken? Oder wurde die Runentafel doch nur zufällig von einem Fremden gefunden? Amelie wollte sich gar nicht vorstellen, was das bedeuten würde: Wenn sich der Spruch nicht umkehren ließ, konnte man den Geist nur noch dadurch aufhalten, indem man seinen Nährer tötete. Amelies Hände zitterten, sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie spielte ernsthaft mit dem Gedanken, fluchtartig die Stadt zu verlassen. Sie hatte Angst, echte Todesangst. Jemand wollte sie tot sehen, zugleich scheute sie sich aber vor dem unvermeidlichen nächsten Schritt ihrer Ermittlungen. Sie fühlte sich hilflos und allein. Die Polizei konnte ihr keine Hilfe sein, denn die Geschichte war haarsträubend und würde jeden an ihrem Verstand zweifeln lassen. Leif konnte das Haus nicht verlassen. Und ihre Freunde? Konnte Amelie sich wirklich
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