Herzen aus Asche
sicher sein, ihnen noch vertrauen zu können? Sie weigerte sich, einen von ihnen zu verdächtigen. Doch sie würde nicht umhin kommen, Überlegungen in diese Richtung anzustellen. Wer hatte der Séance damals beigewohnt? Thore, ihr dämlicher Cousin. Ihm würde sie am ehesten zutrauen, auf die schiefe Bahn zu geraten. Aber Thore verabscheute Hokuspokus und Esoterik, Amelie konnte sich nicht vorstellen, dass er eine Runentafel aus einer Kirchenmauer entfernen würde. Die Zwillinge Anna und Ida? Amelie hatte seit über einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihnen. Nach dem Schulabschluss waren sie getrennte Wege gegangen. Nach ihren letzten Informationen waren sie nach Nordschweden gezogen, um eine Ausbildung zu beginnen. Marie? Die war noch immer in Paris. Sara? Bei ihr konnte sich Amelie am wenigsten vorstellen, dass sie mit ihren Designer HighHeels zwischen Hügelgräbern herumturnte. Zudem sie zu Religion überhaupt keinen Bezug hatte. Amelie war sich noch nicht einmal sicher, ob Sara je eine Kirche betreten hatte. Jarik? Er war ein netter Junge, sorgte sich stets um das Wohlergehen anderer. Erst kürzlich hatte er Amelie besucht, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Bei Gott, er hatte sogar ihre Mutter auf sie angesetzt! Keine schöne Geste, aber seiner Meinung nach zu ihrem Besten. Mikael? Amelie überlegte. Bei ihm fielen ihr am wenigstens Gründe ein, weshalb er es nicht gewesen sein sollte. Er interessierte sich brennend für die Kultur der Wikinger. Eine jahrhundertealte Runentafel würde mit Sicherheit seine Neugier wecken.
Amelie schob ihre Gedanken beiseite. Sie würde nicht umhin kommen, zu den H ügelgräbern zu fahren, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen - aber nicht mehr heute.
Sie gähnte herzhaft. Morgen war Sonntag, der letzte freie Tag vor Semesterbeginn. Sie würde wohl oder übel einen Ausflug unternehmen müssen. Vielleicht warteten in Alt-Uppsala neue Erkenntnisse auf sie. Andernfalls würde sie ihre Freunde in nächster Zeit sehr genau beobachten müssen ...
»Weshalb sitzt du auf dem Boden? Und das mit di esem schrecklichen Brett?«
Amelie fuhr herum. Leif lehnte lässig gegen den Tü rrahmen.
Sie sprang auf, stolperte dabei über ihre eigenen Füße und fiel ihm um den Hals. Er fing ihren Sturz ab und schlang seine Arme um sie. Sie sog den salzigen Duft seiner feuchten Haare ein.
»Nicht so stürmisch, meine Dame.«
Amelie kämpfte mit den Tränen. »Ich habe dich anrufen wollen, aber mein Handy ist weg«, brachte sie mit dünner Stimme hervor. »Ich bin so froh, dass du endlich da bist. Ich habe Schreckliches erlebt.«
Leif griff mit einer Hand unter ihre Kniekehlen, mit der anderen um ihre n Brustkorb. Er hob sie hoch, als wiege sie nicht mehr als eine Puppe. Er trug sie zum Bett, legte sie sanft auf die Matratze und setzte sich neben sie. »Was ist denn passiert?« Er strich über ihre Wange, als sei sie ein Kind, das schlecht geträumt hatte. Heiße Tränen quollen unkontrolliert aus ihren Augen. »Der Killer hat mich gefunden. Er wollte mich umbringen.«
Und dann erzähle sie ihm alles, was sie erlebt hatte, seit sie Leif am Morgen verlassen hatte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, dabei waren es weniger als zehn Stunden. Sie ließ kein Detail aus, berichtete von dem mysteriösen Mofafahrer, von ihrer Rettung und von Frau Forsberg, die so nett gewesen war, ihr trockene Kleidung zu geben. Leif hörte ihr aufmerksam zu, aber eine tiefe Falte hatte sich zwischen seine Augenbrauen gegraben. Als Amelie zu dem Punkt kam, an dem sie ihm von ihrer Unterhaltung mit Jacob Conolly erzählte, stieß Leif geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen aus.
»Jacob ist ein Idiot. Er hat immer nur an sich selbst gedacht. Es geschieht ihm recht, dass er in der Zw ischenwelt festhängt.«
»Ich dachte, du kanntest keine anderen Draugar?«
Leif knurrte. »Diesen Affen zähle ich auch nicht dazu. Er ist nur ein dummer Poltergeist.«
»Er hat uns aber einen entscheidenden Hinweis geli efert.«
Leif nickte stumm, sagte aber nichts mehr. Dies war nicht der rechte Zeitpunkt, um über die Stre itigkeiten zweier Geister zu diskutieren.
Amelie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Sie fühlte sich sogar zu schwach, um zu verzweifeln.
»Wichtig ist momentan nur, dass dir nichts passiert ist«, sagte Leif. »Wenn ich nicht schon tot wäre, wäre ich spätestens in dem Moment gestorben, wenn ich erfahren hätte, dass ich dich verloren habe.«
Amelie musste unwillkürlich
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