Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
nicht besonders groß war. »Es ist schon so lange her, dass du Iris gesehen hast. Wirst du sie überhaupt noch erkennen?«, fragte er, um die letzten Sekunden bis zu ihrer Ankunft zu überbrücken.
Rupert musste schreien, um das Kreischen des herannahenden Zuges zu übertönen. »Iris verändert sich nicht. Sie wird immer unsere Kleine, die Prinzessin … die Verwöhnte bleiben. Vermutlich ist sie, nach der neuesten Londoner Mode gekleidet und mit ihren großstädtischen Manieren, noch attraktiver geworden. Ich werde sie also sicherlich erst erkennen, wenn ich ihre Stimme und ihr bezauberndes Lachen höre, und spätestens dann wird mir bewusst werden, wie sehr ich meine kleine Schwester vermisst habe.«
Jetzt kam Bewegung in die Wartenden. Wer gesessen hatte, stand auf. Mütter nahmen ihre Babys in den Arm und scharten ihre Kinder um sich, während Väter versuchten, das Gepäck, angefangen bei lebenden Hühnern in Käfigen bis hin zu zerlumpt aussehender Kleidung, einzusammeln. Ned war in indischen Zügen bisher stets nur erster Klasse gereist, den Lärm, den Gestank und die Enge in den anderen Waggons konnte er sich daher nicht einmal vorstellen. Auch jetzt sah er Männer auf dem Dach des Zuges hocken. Ned lächelte still in sich hinein. Er fühlte sich mit diesen blinden Passagieren mehr als nur verbunden und würde seine Flucht aus Rangun niemals vergessen.
»Ich habe schon seit einer kleinen Ewigkeit keinen Brief mehr von Iris bekommen«, fuhr Rupert fort.
Ned spürte Freude in sich aufsteigen, denn er selbst bekam regelmäßig Post von ihr.
»Ich bin sehr gespannt, ob sie meine Verlobte mag. Iris kann nämlich schrecklich eifersüchtig sein, musst du wissen. Aber sie ist jetzt schon fast vierundzwanzig, da hat sie wohl Wichtigeres im Kopf, als sich darum zu kümmern, wen ich mir als meine Braut ausgesucht habe. Aber wie dem auch sei, der Zug fährt gerade ein«, sagte er und wies mit einem Kopfnicken in Richtung der Gleise.
Ned riss den Kopf herum. Mit lautem Zischen stieg eine Dampfwolke hoch in die Luft. Die Räder quietschten, als der Zug langsam zum Stehen kam. Die Wartenden drängten vorwärts, und Neds Herz machte einen Sprung. Endlich würde er Iris von Angesicht zu Angesicht begegnen. Er strich sich die Haare zurück und zog sein Jackett glatt, während er den Hals reckte, um über die Köpfe der Leute hinwegsehen zu können. Er entdeckte Harold Walker, der seine Familie auf dem Bahnsteig anscheinend bereits ausgemacht hatte und heftig winkte.
Und da war sie!
Iris Walker quetschte sich an ihrem Vater vorbei, beugte sich aus dem Zugfenster und begann, ihren Geschwistern begeistert zuzuwinken. Voller Eifersucht beobachtete Ned, wie ihr Blick umherstreifte und dann auf ihrem ältesten Bruder liegen blieb. Er wünschte sich so sehr, dass sie auch ihn in der Menge bemerken würde. Andererseits hatte er auf diese Weise Zeit, diesen Traum in Hellblau und Weiß zu betrachten. Ihr wunderschönes Lächeln, bei dem sich Grübchen in ihren Wangen bildeten, verwandelte sich in ein fröhliches Strahlen. Und auch wenn ihr Bob ein Schock für ihn war, so hatten ihre Haare doch einen Glanz, der in ihm den Wunsch weckte, sie zu berühren. Außerdem betonte der Kurzhaarschnitt vortrefflich ihren schlanken Hals, der seinen Blick verräterisch zu der makellosen, hellbraunen Haut über ihren Brüsten wandern ließ. Mit einem letzten Ruck hielt der Zug an. Die Türen schwangen auf. Ein Strom von Menschen ergoss sich aus den Waggons, und Ned verlor Iris in der Hektik aus den Augen. Er war von den Walkers getrennt worden und wurde jetzt von einer Großfamilie zur Seite gedrängt, die sich mit einem ganzen Berg von Gepäck, unter dem sich auch eine Ziege und vier Enten befanden, zu den Wagen der dritten Klasse durchkämpfte. Ned blieb einfach stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er sah etwas Hellblaues aufblitzen, und sofort begann sein Puls zu rasen. Wenn er nur ein paar Zentimeter größer wäre! Verdammt! Jack würde nicht nur mit seinem Kopf, sondern auch mit seinen Schultern aus der Masse herausragen.
»Hey, Ned, hier drüben!«, rief plötzlich jemand. Er glaubte, Ruperts Stimme gehört zu haben, und begann, sich durch die Menge zu arbeiten. Er stolperte über einen Käfig mit einem offensichtlich schlecht gelaunten Hahn, woraufhin ihn eine alte Frau, der das Tier anscheinend gehörte, unter dem hellrosa Zipfel ihres Saris hervor böse anfunkelte.
Als er schließlich seine Balance wiedergefunden hatte,
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