Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
attraktive Mädchen, mit dem er sich später an diesem Nachmittag treffen wollte. Die eine Person, die ihm nicht aus dem Sinn ging, das war Iris Walker. Als er ihr Foto angesehen hatte, hatte ihn ein einziger Gedanke wie ein Stromschlag getroffen: Iris hatte ihm aus dem Foto heraus direkt ins Herz gesehen. Dieser Gedanke erschütterte ihn zutiefst. Jack hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass er auf Neds Gefühle Rücksicht nehmen musste. Ned war ein sehr sensibler und empfindsamer Mensch, und das, was sein Freund für Iris Walker empfand, war wirklich ernst gemeint.
Jack fragte sich, wie Iris der Vorstellung, die Ned von ihr hatte, gerecht werden konnte. Er hoffte, dass sie in jeder Hinsicht der Prinzessin entsprach, die Ned in seiner Vorstellung vor sich sah. Jack hingegen hatte in ihrem Blick noch etwas ganz anderes entdeckt.
Der junge Sinclair wünschte sich nichts anderes als ein ruhiges, geordnetes Familienleben. Jack empfand Mitleid mit seinem Freund. So gern Jack auch seine Mutter wiedergesehen und seinen Vater mit dem beeindruckt hätte, was aus ihm geworden war, so wenig wollte er von jemandem abhängig sein – wollte keinen so brauchen, wie Ned andere Menschen um sich herum brauchte.
Der Gedanke, seinen Vater beeindrucken zu wollen, entlockte ihm ein wehmütiges Lächeln. Er stellte sich vor, wie er William Bryant erklärte, dass er den Tod eines Menschen vertuscht hatte – eines zwar durch und durch schlechten Menschen, aber dennoch war es zumindest Totschlag gewesen. Der dringende und ernst gemeinte Rat, den er Ned vor sechs Jahren gegeben hatte und von dessen Richtigkeit er damals absolut überzeugt gewesen war, hatte seine Gültigkeit mittlerweile verloren und vielmehr jenen Selbsthass in ihm hervorgerufen, an den er von zu Hause gewöhnt war. Das würde er seinem Vater niemals erklären können.
Jack schüttelte den Kopf. Dunkle Wolken des Bedauerns senkten sich auf ihn herab. Plötzlich wünschte er sich, er könnte seinem Vater hier und jetzt gegenüberstehen. Er hatte schon jahrelang nicht mehr an Walter Rally gedacht, doch jetzt erinnerte er sich plötzlich wieder an dessen Grausamkeiten. Und diese Erinnerungen quälten ihn. Er war einfach davongelaufen und hatte es seinem Vater überlassen, den Müll zu beseitigen.
Als er den Funnel’s Hill hinaufging, verschlechterte sich seine Stimmung noch weiter. Er wünschte, er könnte sich bei seinem Vater dafür entschuldigen, dass er ein Feigling und ein Lügner war. Und dann gab er sich ein Versprechen: Er würde eines Tages nach Hause fahren und die richtigen Worte und den Mut finden, um seinem Vater von dem, was er in Bangalore getan hatte, zu erzählen. Sein Vater würde ihm das womöglich niemals verzeihen, aber ihn selbst würde es vielleicht von der Bürde befreien, immer seinen hohen Erwartungen gerecht werden zu müssen.
Jack verspürte weder Hunger noch Durst, aber er war sehr erschöpft. Dennoch steuerte er auf den winzigen Gemischtwarenladen am Straßenrand zu, der kaum größer als ein Kiosk war. Jack hatte sich noch nie so einsam gefühlt wie in diesem Moment. Er war deshalb auch unglaublich froh, einen anderen Menschen zu sehen, der ihn aus seinen düsteren Gedanken riss.
»Hallo, Chinathambi«, rief er.
»Mr. Bryant, Sir!«, erwiderte der Ladenbesitzer und legte seine Hände wie zum Gebet zusammen, während sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Ich habe Sie heute gar nicht erwartet.«
»Nun, ich dachte, ich schau einfach einmal vorbei und frage, ob du zufällig frische Eier hast!«, log er.
Der hochgewachsene, dünne Inder mit der tiefen, melodischen Stimme wackelte mit dem Kopf. »Ja, ja. Ganz frische, Sir. Heute Morgen erst gelegt.« Er zischte einem kleinen chokra etwas zu. »Marimuthu, hol die Eier. Jaldi, jaldi «, trieb er ihn an. »Wie geht es Ihnen, Mr. Bryant, Sir?«
»Ich bin ziemlich müde.«
»Sie haben also Ihre Schicht hinter sich und wollen sich jetzt aufs Ohr legen, wie man sagt«, stellte Chinathambi grinsend fest.
»In der Tat.«
Der Junge kehrte mit einem halben Dutzend Eier in den Händen zurück, begleitet von einem hochgewachsenen Mädchen – der Ähnlichkeit nach seiner Schwester. Jack hatte die junge Frau schon einmal gesehen. Er erkannte sie an ihrem geschmeidigen Gang, der mehr ein Gleiten war und ihn an einige der Tänzerinnen erinnerte, die er in London gesehen hatte. Sie war barfuß. Der goldene Schmuck, den sie um ihre Knöchel trug, klingelte hell wie Glöckchen,
Weitere Kostenlose Bücher