Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
von seinen Eltern gehört hatte. In ihrem letzten Brief hatten sie geschrieben, dass sie beide wohlauf seien und dass das Geschäft gut lief. Seine Mutter hatte sich endlich die Haare kürzer schneiden lassen, außerdem hatten sie das Haus neu streichen lassen.
Heute, versprach er sich, würde er damit beginnen, durch einen regelmäßigeren Briefwechsel eine Art Brücke zu bauen. Und eines Tages würde ihn diese Brücke wieder zurück nach Cornwall führen.
25
Ned stand voller Ungeduld auf dem belebten Bahnsteig der Bowringpet Station und fragte sich, ob man ihn in der unglaublichen Menge von Menschen, die auf den Zug nach Madras warteten, überhaupt bemerken würde. Das Stimmengewirr der vielen Leute um ihn herum war so laut, dass er kaum klar denken konnte. Dazu kamen die gellenden Rufe der Gepäckträger, die Frachtgüter zum Einladen vorbereiteten und Gepäckwagen zwischen den Passagieren hindurchzogen. Wie üblich schmerzten Ned die kräftigen, leuchtenden Farben der Saris fast in den Augen, und dennoch wurde er es nie müde, ihre Schönheit zu bewundern.
Heute war ein ganz besonderer Tag. In der Stadt wurde karaga gefeiert, ein Fest, das in dieser Region von großer Bedeutung war. Die Inderinnen trugen allesamt ihre Festtagsgewänder; selbst die Ärmsten waren in herrlichste Seide gekleidet. Ned warf einen Blick zu den Frauen der Familie Walker hinüber und war wieder mal verblüfft darüber, wie groß der Unterschied zwischen dem britischen und indischen Kleidungsstil war. Die Inderinnen sahen in ihren fließenden Gewändern elegant und weiblich aus, die anglo-indischen Walkers hingegen wirkten in ihrem Weiß, Creme und Khaki, das sich an die britische Tropenkleidung anlehnte, förmlich und steif. Warum gaben sie sich so viel Mühe, die Kolonialherren zu kopieren? Er selbst hätte viel für ein derart gutes, exotisches Aussehen gegeben.
Die Familie Walker hatte beschlossen, sich auf diesem Bahnsteig zu treffen. Rupert Walker hatte sich sogar ein Auto ausgeliehen und würde seine Eltern später nach KGF zurückfahren. Alle anderen mussten selbst sehen, wie sie nach Hause kamen. Ned hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, da er jedoch am nächsten Tag freihatte, machte er sich deswegen keine großen Gedanken. Worüber er sich aber sehr wohl Gedanken machte, war der kleine Fleck auf dem Hosenboden seiner modischen neuen Hose mit Aufschlag. In Großbritannien waren solche Hosen gerade der letzte Schrei, wie Jack ihm glaubhaft versichert hatte. Ned fluchte leise vor sich hin. Schließlich wollte er Iris beim ersten Mal in bestem Licht gegenübertreten.
J etzt starrte er wieder die Blumen in seiner Hand an, ein klei nes Sträußchen aus Azaleen, Kamelien und Röschen.
»Hmm«, hatte die Floristin angesichts des wunderschönen Arrangements gesagt. »Diese Blumen haben allesamt eine tiefere Bedeutung.«
»Wirklich? Ich hoffe doch, sie bedeuten nur Gutes.«
»Wenn Sie verliebt sind, dann auf jeden Fall.«
»Das wusste ich nicht«, hatte er geantwortet und gemerkt, wie er rot wurde. »Ich habe die Person, für die dieser Strauß bestimmt ist, noch nie im Leben gesehen«, hatte er hastig hinzugefügt und gehofft, weiteren neugierigen Fragen vorzubeugen. Jetzt, da er erfahren hatte, welche Botschaft die Blumen und ihr Duft vermittelten, war er mit seiner Wahl sehr zufrieden. Aber würden die Blumen auch Iris’ Herz berühren? Würde er ihr überhaupt sympathisch sein, wenn sie ihn sah? Schließlich waren sie bis jetzt nur Brieffreunde.
Rupert kam auf ihn zugeschlendert. »Hübsche Blumen, Ned.«
Er seufzte im Stillen. »Vielen Dank. Aber sie fangen schon an zu welken.«
»Genau wie ich.« Rupert zog seine Taschenuhr aus der Westentasche, als in der Nähe das vielsagende Pfeifen eines Zuges ertönte. »Ah, jetzt ist es gleich so weit. Auf die Sekunde pünktlich, Gott sei Dank. Ich kann nämlich nicht lange bleiben. Ich habe später noch einen wichtigen Termin.«
Rupert war älter als Iris und, wie Ned wusste, ihr Lieblingsbruder. Es freute ihn, dass er sich so gut mit Rupert, der kürzlich als Bürovorsteher in die Prüfabteilung von Taylor & Söhne gewechselt hatte, verstand. Ned hatte sich oft gefragt, wie es kam, dass Iris und Rupert eine so enge Beziehung hatten, obwohl Iris sehr extrovertiert und Rupert sehr zurückhaltend war. Rupert besaß jedoch einen trockenen Humor, den Ned sehr schätzte. Mehr noch, Ned mochte ihn vielleicht auch einfach deshalb, weil er mit seinen eins siebzig
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