Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
Schritte von jenen Menschen entfernt, die er liebte, und wusste zugleich, dass sie ihn nicht auf dieselbe Weise liebten, wie sie einander liebten. Er hatte niemanden.
Viele der Menschen waren immer wieder zu den Walkers gekommen, um ihnen ihr Mitgefühl auszudrücken, doch mittlerweile klangen ihre Worte nicht mehr nach Unterstützung und Trost, sondern nach Beileidsbezeugungen. Sie hatten die Hoffnung aufgegeben. Ned beobachte, wie Harold Walker in ebendiesen Stunden jene Selbstbeherrschung demonstrierte, auf die die Briten so stolz waren, während er verzweifelt weiterarbeitete und sich um jene kümmerte, die ihn brauchten. Seine Frau und seine Kinder dagegen zeigten, was sie fühlten. Jim weinte ganz offen um seinen Bruder.
Alle indischen Arbeiter waren inzwischen geborgen worden. Die Familien hatten sich zerstreut, um sich um ihre Verwundeten zu kümmern, ihre Sterbenden mit Gebeten zu begleiten oder bei ihren Toten die Totenwache zu halten. Nur Arnold de Souzas Leiche hatte man noch nicht heraufbringen können. Es war schweres Gerät notwendig, um seinen Leichnam von dem riesigen Felsblock zu befreien.
Was Bryant anging, so hatte man ihn zuletzt noch lebend gesehen, von Rupert oder Drake dagegen hatte es keinerlei Nachricht gegeben. Niemand fühlte sich wohl bei dem Gedanken, die drei für tot zu erklären, und so zogen es alle vor, den etwas freundlicher klingenden Begriff »vermisst« zu verwenden. Für Ned und die Familie Walker bedeutete dies jedoch ein und dasselbe.
Ned fühlte sich genauso elend und hilflos wie alle anderen Trauernden, doch er kam sich in seiner Trauer noch einsamer vor, fühlte sich völlig allein. Von dieser schmerzlichen Erkenntnis getroffen, erinnerte sich Ned an die andere Person, die wegen Jack gekommen war. Er sah zu dem Dienstmädchen hinüber, das noch immer reglos wie eine Marmorstatue auf seinem Posten ausharrte. Die Mythen und Sagen, die er als Kind so gern gehört hatte, kamen ihm jetzt wieder in den Sinn, von Göttinnen, die vom Himmel aus den Menschen zusahen und hin und wieder geruhten, in deren Leben einzugreifen. Genauso erschien ihm Kanakammal; sie war hier, aber sie war nicht in das Geschehen eingebunden. Ihr Gesicht verriet nicht, was sie fühlte, ihr Blick war völlig undurchdringlich. Hinter dieser ruhigen Fassade schlummerte etwas; Ned vermutete, dass auch in ihr leidenschaftliche Gefühle brannten, wenngleich sie gelernt hatte, ihre Empfindungen zu verbergen.
Die Morgendämmerung brach an. Nur die Familie Walker war nicht von ihrem Platz gewichen, hoffte wider alle Hoffnung. Ned warf einen letzten Blick zu Kanakammal hinüber und fragte sich, wann sie ihre Wache aufgeben und akzeptieren würde, dass ihr Arbeitgeber tot und damit ihre Hoffnung, ihre Familie mit einem regelmäßigen Einkommen unterstützen zu können, zerschlagen war. Ned nahm an, dass ihre Familie auf das Geld angewiesen war. Kein Wunder, dass ihr so an Jack Bryants Wohlergehen gelegen war.
Plötzlich wandte sie den Kopf abrupt nach links und sah in Richtung eines der drei kleineren Stollen, die mit dem Hauptschacht verbunden waren. Ned nahm an, dass sie sich geschlagen gab. Er wandte sich ab.
Kanakammal sah sie zuerst, dort, vor dem kleinen Eingang des Stollens, der zum Hauptgang der Mine führte. Von ihrem Aussichtspunkt auf dem Hügel, wo sie all die Stunden allein gestanden hatte, entdeckte sie in dem geisterhaften grauen Licht der Morgendämmerung Jack Bryants unverkennbare Silhouette. Er kauerte auf Händen und Knien. Ein zweiter Mann lag neben ihm auf dem Rücken. Sie beobachtete, wie der Mann, der ihrer Überzeugung nach Bryant war, einfach umfiel. Er war offensichtlich vollkommen erschöpft. Der andere rührte sich nicht.
Kanakammal begann laut zu rufen und zu gestikulieren. Der Mann, der neben ihrem Herrn auf dem Boden lag, konnte niemand anders sein als der vermisste Sohn der Walkers, denn Drake war wesentlich älter.
Jetzt rannten alle los.
Der nette junge Edward Sinclair war einer der Ersten, die auf ihre Rufe reagierten. Inmitten der ausbrechenden Hysterie nahm er sich einen Augenblick Zeit, um einen bedeutungsvollen Blick mit ihr zu wechseln, dann rannte er auf den Stollen zu, auf den sie zeigte. Kanakammal nickte ihm einmal kurz zu, bevor sie sich umdrehte und gemessenen Schrittes den Hügel verließ.
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Es war, als wären sie aus dem Reich der Toten zurückgekehrt, so beschrieb Flora Walker später diesen Moment. Auch wenn Ned die beiden Verletzten zuerst erreicht
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