Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
hinwegkam. In seiner freundlichen Stimme lagen nichts als Mitgefühl und Güte. Ned spürte instinktiv, dass er ihm vertrauen konnte. »Wo ist Bell?«
»Sie schläft. Ich habe ihr etwas gegeben, weil sie sehr erschöpft war und ihr das viele Weinen nicht guttat.«
»Vielen Dank.«
»Wie fühlst du dich?«
»Wie betäubt.«
»Ich verstehe. Keine Bauchschmerzen, kein verstimmter Magen, kein Durst?«
Ned schüttelte den Kopf. »Wie konnte das nur so schnell gehen?«
»Bei der Cholera ist das immer so. Den meisten Kranken bleiben nur Stunden. Ich bin mir sicher, dass ihr, du und Bell, euch nicht angesteckt habt, es sei denn …«
»Wir haben immer nur abgekochtes Wasser getrunken.«
Dr. Grenfell legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. »Und jetzt verrat mir, warum ihr drei als blinde Passagiere an Bord gekommen seid.«
Ned sackte nach vorn, die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt. Stockend erzählte er dem Doktor eine gekürzte Version ihrer Geschichte. Sie hätten nicht länger in dem Waisenhaus in Burma bleiben wollen, weil sie glaubten, in Indien leichter eine Möglichkeit zu finden, nach Großbritannien zurückzukehren. Die hässliche Sache mit Brent verschwieg er. Es schien ihm einfacher, das Ganze nicht noch komplizierter zu machen, als es sowieso schon war. Seinen Schmerz über den Verlust seiner Eltern verschwieg er dem Doktor jedoch nicht.
Als er fertig war, lehnte sich Ned zurück. Sein Hals war vom vielen Reden ganz trocken, aber er hatte keine Tränen.
Grenfell schwieg eine Weile. Ned nahm an, dass er etwas Zeit brauchte, um die ganze Geschichte zu verdauen. Sogar in seinen eigenen Ohren klang das alles wie ein Roman: dramatische Todesfälle, exotische Schauplätze, eine Fahrt als blinde Passagiere auf einem Ozeandampfer. Er schüttelte den Kopf. »Es ist das, was wir erlebt haben«, fügte er hinzu. »Und jetzt haben wir nichts mehr. Nur noch uns.«
»Es tut mir leid, dass ihr alles verloren habt, Ned. Es ist wirklich schlimm, dass ihr drei in jungen Jahren schon so viel erleiden musstet.«
»Was wird mit Robbie geschehen?«
Der Schiffsarzt nahm das Stethoskop von seinem Hals. »Nun, der Kapitän ist ziemlich aufgebracht darüber, dass er blinde Passagiere an Bord hat. Natürlich haben alle Angst, dass jetzt auf diesem Schiff die Cholera ausbrechen könnte. Wir wissen über diese Krankheit einfach noch nicht genug.« Er zeigte auf die gläserne Thermosflasche mit Wasser und bedeutete Ned, etwas daraus zu trinken. »Es hat bisher in Großbritannien zwei, nein drei größere Ausbrüche der asiatischen Cholera gegeben. Anfangs haben die Ärzte noch alles Mögliche versucht, angefangen von Brandy bis hin zum Aderlass. Irgendwann haben sich die Menschen dann nur noch hinter ihren Türen verschanzt und gebetet.«
Er erhob sich und begann, die Instrumente wegzuräumen, mit denen er Ned untersucht hatte. »Im Augenblick wütet eine Choleraepidemie in Bengalen. Sie begann vor zwei Jahren. Alle Versuche, sie einzudämmen, sind gescheitert. Wir wissen jedoch, wie wichtig Hygiene ist, um eine Ansteckung zu verhindern.«
Ned runzelte nachdenklich die Stirn. »Dann müssten Bell und ich also gesund bleiben, wenn wir alle Vorsichtsmaßnahmen einhalten?«
»So ist es. Ich bin der Überzeugung, dass ihr beide nicht erkranken werdet. Wenn Robbie erst heute Morgen die ersten Symptome gezeigt hat, dann hat er sich angesteckt, bevor ihr an Bord gegangen seid. Verzeih mir, wenn ich gefühllos klinge, aber ich muss jetzt vor allem an die anderen Passagiere denken.«
»Ich verstehe«, versicherte Ned ihm.
»Wenn einer von euch beiden sich zur gleichen Zeit wie Robbie infiziert hätte, dann müssten jetzt auch bei euch die ersten Symptome auftreten, selbst wenn es infizierte Menschen gibt, die möglicherweise gar keine Symptome zeigen.«
»Das klingt für mich ziemlich verwirrend.«
»Es handelt sich um eine Krankheit, Ned. Sie kann so widersprüchlich sein, wie sie will«, sagte der Doktor mit einem traurigen Lächeln. »Wir werden euch in der Kabine nebenan unterbringen, damit ich euch beobachten kann. Aber wenn ihr ordentlich esst, viel trinkt und auf dieser Fahrt reichlich frische Luft bekommt, werdet ihr bestimmt bei guter Gesundheit bleiben.«
»Was ist mit dem Kapitän?«
»Nun«, sagte der Doktor und zwinkerte ihm zu. »Er wird wohl kaum zwei höfliche und überaus angenehme junge englische Bürger über die Schiffsplanke ins Meer treiben. Mach dir
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