Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
verantwortlich, herrscht wie ein König über Städte und Dörfer. Er hat die Befugnis, Regeln und Bestimmungen zu erlassen – und nicht zu vergessen, er spricht Recht.«
Ihre Worte überraschten ihn. »Ich weiß, dass Henry Freude an seiner Arbeit hat, aber er hat mir nie erzählt, was er genau macht. Ich hatte keine Ahnung.«
»Er lebt wie ein König, residiert in einem von der Regierung gestellten Bungalow, hat Diener und höchstwahrscheinlich auch einen Wagen mit Chauffeur.«
»Und er hat behauptet, sein Einkommen sei nur sehr bescheiden!«
»Das ist es wahrscheinlich auch. Aber das ist ja der springende Punkt! Er bekommt alles gestellt. Zu Hause wäre er ein Beamter in einer langweiligen Behörde mit einem langweiligen Leben. Männer wie Henry und mein Ehemann William, die Indien kennengelernt haben, wollen dieses Land nie wieder verlassen. Es gibt ihrem Leben eine echte Bedeutung.«
»Das klingt ja alles ziemlich dramatisch.«
»Jack, ich bin Realistin. William wäre im besten Fall Buchhalter geworden, und ich würde heute vermutlich als Verkäuferin in irgendeinem Laden stehen. Unsere Tochter Jennifer hätte früh die Schule verlassen müssen, um bei einer Modistin oder Floristin in die Lehre zu gehen. Sie hätte einen netten jungen Mann kennengelernt – höchstwahrscheinlich einen Beamten aus einer anderen Behörde –, und der Kreislauf hätte wieder von vorn begonnen.« Sie berührte seinen Arm. »Und daran ist auch nichts verkehrt, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. A ber William hat es gewagt zu träumen.« Tante Agatha kicherte . Jack musste unwillkürlich lächeln. Er mochte sie wirklich gern. »Er hat mich nach Indien gebracht, und jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, irgendwo anders zu leben. Unser Leben dort ist einfach wundervoll, und Jennifer ist mit einem feinen jungen Offizier aus sehr gutem Hause verlobt.«
Langsam begann Jack zu begreifen, wovon Henry die ganze Zeit gesprochen hatte. »Das alles klingt ein wenig nach einem schönen Traum.«
Tante Agatha lächelte. »Das ist es auch. Aber wissen Sie, Jack, die meisten Leute, die hier unten leben und arbeiten, besitzen auch ein echtes Pflichtbewusstsein. Ich meine, mein Mann glaubt felsenfest an das Britische Empire. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass es eine Form des Patriotismus ist, sein Leben der britischen Herrschaft in Indien zu widmen. Die meisten der Passagiere, die auf diesem Schiff erster Klasse reisen, sehen das nicht anders. Ihre Kinder sind oftmals in Indien geboren und wurden, als sie größer waren, für viele Jahre nach Hause geschickt, um dort zur Schule zu gehen. Ihre Eltern sehen sie während dieser Zeit so gut wie nie. Irgendwann werden diese Söhne und Töchter dann von ihren feinen Privatschulen genommen und nach Indien geholt. Oft können sie es gar nicht erwarten, die Reise anzutreten. Haben Sie noch keinen dieser Witze über die Fischerflotte gehört?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe.«
»Nun, es gibt sehr viele begehrte Junggesellen in Indien. Unverheirateten Engländerinnen legt man oft nahe, eine Vergnügungsreise nach Indien zu unternehmen, um sich dort einen Ehemann zu angeln, daher der Begriff ›Fischerflotte‹. Auch der kleinen Eugenie könnte man das vorwerfen. Immerhin kam auch sie in Indien zur Welt, und wie die meisten Kinder, die dort geboren wurden, hat sie das Land gewissermaßen im Blut.«
Er spürte, dass sie ihm mit ihrem Blick etwas zu verstehen geben wollte, und hob abwehrend die Hände. »Ich bin nicht auf der Suche nach einer Ehefrau, Tante Agatha.«
»Das hat Eugenie auch gesagt. Aber keine Bange, ich will nicht neugierig sein – sosehr mich das auch interessiert, Jack.«
Dankbar für ihr Taktgefühl, beugte er sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Vielen Dank.«
Sie sah sich um. »Wenn man vom Teufel spricht …«, sagte sie mit einem Augenzwinkern.
Eugenie kam auf sie zu, bekleidet mit einem luftigen Sommerkleid. Ihr neuer Tropenhelm saß wackelig auf ihrem Kopf, und ihr Gesicht zeigte keine Spur von Make-up, wie er erfreut feststellte.
»Warum hast du denn den gekauft?«, fragte er und klopfte mit den Fingerknöcheln leicht auf ihre Kopfbedeckung. »Du hast doch sicher noch einen von deiner ersten Reise.«
»Das ist richtig. Obwohl mir der Helm damals noch viel zu groß war, weil ich auf meiner ersten Reise gerade einmal drei Jahre alt war. Aber im Laufe der Jahre bin ich hineingewachsen. Wenn du wieder nach Hause
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