Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
Straßen auf die meisten Städte dieser Welt gut vorbereitet hatte, doch Port Said war völlig anders als alles, was er sich je hätte vorstellen können. In dieser Hafenstadt sah es so aus wie an einem Festtag in Penzance, nur dass hier alles noch viel verrückter und noch viel bunter war. Sobald sie an Land waren, wurde ihre kleine Gesellschaft von einer Schar von Jungen verfolgt, die ihnen immer wieder versicherten, sie könnten ihnen zeigen, wo es die besten Läden und die billigsten Waren gäbe. Darüber hinaus heftete sich eine Horde von Bettlern und fliegenden Händlern an ihre Fersen, um ihnen von Stickereien bis Porzellan so gut wie alles anzubieten.
Anscheinend wurde erwartet, dass jeder, der zum ersten Mal nach Indien reiste, das berühmte Geschäft des Simon Arzt besuchte, in dem es praktisch alles zu kaufen gab. In erster Linie aber war es für seine Tropenhelme berühmt – eine Kopfbedeckung, die jeder Engländer und jede Engländerin für ihren Besuch in den Kolonien erwerben sollte.
»Gehen Sie in Indien niemals mit ungeschütztem Kopf in die Sonne«, hatte Eugenies Tante Agatha mehrfach gemahnt und dabei auf den stabilen Tropenhelm geklopft, den Eugenie für Jack ausgesucht hatte. »Sie werden sich die ersten paar Tage albern vorkommen, dann aber wird man Sie nicht mehr ohne sehen.«
Das Geschäft war voller Passagiere, die er vom Sehen her kannte, aber vielen begegnete er auch zum ersten Mal. »Das sind die Passagiere der ersten Klasse«, machte Tante Agatha ihn aufmerksam. »Auch sie kaufen ›Bombay Bowlers‹. Ohne Tropenhelm gehört man einfach nicht dazu. Und Engländer zu sein und nicht dazuzugehören – wo wir in Indien so wenige sind, um Millionen zu regieren –, nun, das ist ja fast schon Verrat.«
Jack lächelte und bezahlte – aber erst, nachdem Tante Agatha den Preis mit Worten wie »absurd« und »Raub« kommentiert hatte. Danach lud er die Frauen zu einem Drink unter den schattigen Steinarkaden des Einkaufsviertels im Hafen ein. Das Getränk war kühl und die Gesellschaft angenehm, aber immer noch folgte ihnen die schreiende Horde von Straßenverkäufern und bedrängte sie, Tücher oder Vasen oder klebrige Süßigkeiten zu kaufen.
Schließlich waren sie froh, wieder auf die Naldera zurückzukehren. Jack stellte fest, dass dort zwischenzeitlich eine Art Metamorphose stattgefunden hatte. Die Schiffsoffiziere trugen w eiße Anzüge, die Damen schwebten plötzlich in Musselin un d hauchdünnen Stoffen über die Decks. Die Europäer sahen mit ihren Tropenhelmen ziemlich lächerlich aus, aber diese Kopfbedeckung gehörte offensichtlich tatsächlich zum guten Ton. Statt heißer Suppe gab es jetzt Kaltschalen, und Jack entdeckte zu m ersten Mal gewagtere Gerichte auf der Speisekarte, Gerichte mit besonderen Gewürzen oder interessanten Hülsenfr üchten. Dazu wurden wie selbstverständlich Soßen gereicht, die noch zu Beginn der Reise misstrauisch beäugt worden wären.
Als ein einziger langer Ton des Schiffshorns schließlich verkündete, dass sie ablegten, stieg die Aufregung an Bord, da man als Nächstes ein Wunderwerk der industriellen Revolution durchfahren würde – den Suezkanal.
Jack wäre es auch recht gewesen, wenn sie vorbei an den windgepeitschten Felsen von St. Helena – Napoleons letzter Ruhestätte – bis hinunter in den Südatlantik gefahren wären oder die gefährlicheren Wasser des Kaps der Guten Hoffnung durchquert und das Horn von Afrika umrundet hätten. Aber auch der Suezkanal, eine technische Meisterleistung, die die Fahrzeit nach Indien mehr als halbiert hatte, interessierte ihn sehr.
»Die Sehnsucht nach zu Hause wird nie vergehen, Jack«, sagte Tante Agatha, als sie an Deck standen und zusahen, wie der Hafen langsam in der Ferne verschwand. Er versuchte, den peinlichen Tropenhelm, den er jetzt trug und der bei ihm gewiss wie ein Feuerwehrhelm aussah, zu ignorieren. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass Indien sehr verführerisch ist und regelrecht süchtig machen kann.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Ihr Kabinennachbar«, sagte sie und wechselte damit ohne jede Vorwarnung das Thema. »Ich mag ihn wegen seiner Bescheidenheit, wie ich zugeben muss. Der Mann ist noch nicht einmal dreißig und bereits zuständig für die Verwaltung eines ganzen Bezirks, Jack. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viel Macht er hat?«
Jack nahm seinen Blick vom Ufer und sah Tante Agatha an. »Macht?«
Sie lachte. »Er ist für Tausende von Menschen
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