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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Gespenster und Dämonen geweckt worden, die, so viel wusste Su Kyi, in uns allen wohnen und nur darauf warten, aus ihren Verstecken zu kriechen oder ihre Masken fallen zu lassen.
    Sie stellte etwas Tee neben den schlafenden Tin Win und eilte hinunter ins Kloster.
    Als sie zurückkehrte, lag Tin Win noch immer im Bett und regte sich nicht. U May hatte ihr nicht wirklich helfen können. Sie hatte ihm die vergangenen drei Tage und Nächte in allen Einzelheiten geschildert, und er schien nicht sonderlich beeindruckt. Er murmelte etwas von einem Virus, dem Virus der Liebe, den, wenn sie ihn richtig verstanden hatte, jeder in sich trüge, der aber nur bei wenigen wirklich ausbrechen würde. Sollte dies aber geschehen, sei es zu Beginn mit erheblicher Angst verbunden, mit tumultartigen Zuständen, die Körper und Seele völlig durcheinander brächten. In den meisten Fällen würde sich das mit der Zeit legen.
    In den meisten Fällen, hatte er gesagt, und Su Kyi musste an die Geschichte ihres Großonkels denken, der siebenunddreißig Jahre lang seine Schlafstätte nicht verlassen hatte, die ganzen Jahre über reglos auf seiner Matte lag und an die Decke starrte, keinen Ton von sich gab, sich weigerte selber zu essen und nur überlebte, weil seine Verwandten ihn mit Engelsgeduld täglich dreimal fütterten. Und das alles, weil die Nachbarstochter, die er in seiner Jugend begehrt hatte, von ihren Eltern an einen anderen Mann verheiratet worden war. Oder ihr Neffe, der sein Herz an ein Mädchen im Dorf verloren hatte und jeden Abend in der Dämmerung vor dem Haus ihrer Familie saß und Liebeslieder sang. Das allein war nichts Ungewöhnliches, ein Brauch, den die meisten jungen Paare in Kalaw pflegten; aber ihr Neffe hörte nicht auf zu singen, auch als unmissverständlich klar wurde, dass die Familie des Mädchens sein Begehren nicht billigte. Nach einiger Zeit sang er nicht nur in den Abendstunden, sondern den ganzen Tag über, und als er begann, auch in der Nacht zu singen, mussten seine Brüder kommen und ihn, da er sich weigerte zu gehen, forttragen. Er war zu Hause in einen Avocadobaum geklettert und hatte nicht aufgehört zu singen, bis ihm nach drei Wochen und sechs Tagen die Stimme für immer versagte. Fortan bewegte er den Mund im Rhythmus der Melodie, und seine Lippen formten die Worte des Liedes, das von seiner ewigen Liebe erzählte. Je länger sie nachdachte, umso mehr Geschichten fielen ihr ein von Bauern und Mönchen, von Kaufleuten und Händlern, Goldschmieden und Fuhrleuten, ja sogar von manchen Engländern, die aus Leidenschaft ihren Verstand verloren hatten.
    Vielleicht, so dachte Su Kyi, hatte dies etwas mit Kalaw zu tun, vielleicht handelte es sich hier um einen außergewöhnlichen Erreger, vielleicht lag es an der Höhenluft oder am Klima? Gab es in diesem unscheinbaren Ort in Hinterindien etwas, das den Virus besonders virulent machte?
    Einen Anlass zur Sorge sehe er nicht, hatte U May gesagt.
    Su Kyi zerrieb Eukalyptusblätter in ihrem Mörser und hielt sie Tin Win unter die Nase in der Hoffnung, sie würden seinen Geruchssinn stimulieren. Sie versuchte es mit einem Strauß Hibiskusblüten und Jasmin. Sie massierte ihm die Füße und den Kopf, aber Tin Win zeigte keine Reaktion. Sein Herz schlug und er atmete, mehr Lebenszeichen gab er nicht von sich. Er hatte sich zurückgezogen in eine Welt, in der sie ihn nicht erreichte.
    Am Morgen des siebten Tages stand ein junger Mann vor dem Haus. Auf seinem Rücken trug er Mi Mi. Su Kyi kannte sie vom Markt und wusste, dass Tin Win die Nachmittage und Wochenenden mit ihr verbrachte.
    »Ist Tin Win zu Hause?«, fragte Mi Mi.
    »Ja, er ist krank«, antwortete Su Kyi.
    »Was fehlt ihm?«
    »Ich weiß es nicht. Er spricht nicht. Er isst nichts. Er ist wie von Sinnen.«
    »Darf ich zu ihm?«
    Su Kyi zeigte ihr den Weg durch die Küche ins Schlafzimmer. Tin Win lag reglos da, sein Gesicht war eingefallen, die Nase spitz und die Haut, trotz der braunen Farbe, fahl und leblos. Der Tee und der Reis waren unberührt. Mi Mi rutschte vom Rücken ihres Bruders und kroch zu Tin Win. Su Kyi konnte den Blick nicht von ihr wenden. Dieses Mädchen bewegte sich mit einer Anmut, wie Su Kyi es selten gesehen hatte. Als ob die seltsam verformten Füße ihr ein anderes, ein intensiveres Gefühl für ihre Glieder und Bewegungen gegeben hätten.
    Mi Mi nahm Tin Wins Kopf in ihre Hände und legte ihn in ihren Schoß. Sie beugte sich hinab, und sein Gesicht verschwand unter ihren langen,

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