Herzenhören
schwarzen Haaren. Sie flüsterte in sein Ohr. Ihr Bruder wandte sich ab und ging hinaus, Su Kyi folgte ihm. Sie machte Tee für die Gäste und holte aus einer alten Büchse geröstete Melonen- und Sonnenblumenkerne.
Sie ging in den Garten und setzte sich in den Schatten des Avocadobaums. Sie blickte über den Hof, betrachtete das gehackte und an der Hauswand ordentlich gestapelte Holz, den Baumstumpf, auf dem sie zuweilen ein Huhn schlachtete, ihren Gemüsegarten, die langsam zerfallende Bank, die Tin Wins Vater noch gebaut haben musste. Ihre sechs Hühner liefen herum und pickten in der Erde. Sie spürte, wie sie traurig wurde und wie dieses Gefühl in ihr wuchs. Su Kyi kannte diese Stimmung; sie verabscheute sie und versuchte immer, sich nach Kräften dagegen zu wehren. In den allermeisten Fällen mit Erfolg, aber jetzt merkte sie, wie das Gefühl größer und mächtiger wurde. Sie konnte keinen Grund sehen, und grundlose Trauer war für sie nichts als Selbstmitleid, etwas, dem sie sich Zeit ihres Lebens nicht hatte hingeben wollen. War es Tin Wins rätselhafte Krankheit, die ihr so zu schaffen machte? Die Angst, ihn zu verlieren? Oder die in großen Abständen wiederkehrende Erkenntnis, wie verlassen, verloren und einsam sie war. Wie auch Tin Win. Wie auch ihre Schwester. Jeder letztlich. Der eine spürte es, der andere nicht.
In diesem Augenblick hörte sie den Gesang. Er kam aus dem Haus und war so leise, als würde er von der anderen Seite des Tales zu ihr dringen. Eine feine und zarte Mädchenstimme sang ein Lied, das Su Kyi nicht kannte, nicht einmal den Text verstand sie oder auch nur einzelne Wörter. Es waren die Melodie und der Klang, die sie so berührten.
Dieser Gesang kann Gespenster und Dämonen bändigen, dachte Su Kyi. Er stillte Schmerzen und machte ihre Trauer erträglich. Sie verharrte wie erstarrt unter dem Baum. Als könnte jede Bewegung zerstören, was sie fühlte. Mi Mis Stimme füllte das Haus und den Hof, sie war wie ein Duft, der in alle Winkel drang. Su Kyi hatte das Gefühl, als würden alle Geräusche, das Singen der Vögel, das Zirpen der Zikaden, das Quaken der Kröten, langsam verebben, bis sie nur noch den Gesang hörte. Er hatte die Macht einer Droge, er öffnete jede Pore, jeden Sinn ihres Körpers. Sie dachte an Tin Win. Sie musste keine Angst um ihn haben. Nicht mehr. Dieser Gesang war stärker als alles, was er zum Schutz um sich errichtet haben mochte, diese Stimme würde ihn in jedem Versteck erreichen. War es wirklich nur Zufall, dass dieser Virus, von dem U May gesprochen hatte, so häufig in Kalaw ausbrach?
Sie blieb unter dem Avocadobaum sitzen, bis ihr die Augen zufielen.
Die Kälte des Abends weckte sie. Es war dunkel und sie fror. Die Stimme sang noch immer, genauso zart, genauso schön. Su Kyi stand auf und ging ins Haus. In der Küche brannte eine Kerze und auch im Schlafzimmer. Mi Mi saß neben Tin Win, seinen Kopf in ihrem Schoß. Sein Gesicht wirkte voller, die Haut weniger blass. Ihr Bruder war gegangen. Su Kyi fragte, ob sie hungrig sei oder sich hinlegen wolle. Mi Mi schüttelte kurz den Kopf.
Su Kyi aß etwas kalten Reis und eine Avocado. Sie war müde und hatte nicht das Gefühl, dass sie im Augenblick etwas tun konnte. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, richtete für Mi Mi eine Schlafstätte, gab ihr eine Jacke und eine Decke und legte sich hin.
Als sie am Morgen erwachte, war es still. Sie blickte sich um, als müsse sie sich vergewissern, dass sie nicht mehr träumte. Mi Mi und Tin Win lagen neben ihr und schliefen. Sie stand auf und merkte, wie wohl und leicht sie sich fühlte, ohne zu wissen warum. Fast allzu leicht, dachte sie und ging in die Küche. Sie machte Feuer und Tee, putzte Frühlingszwiebeln und Tomaten und kochte Reis fürs Frühstück.
Tin Win und Mi Mi erwachten am späten Vormittag. Es war warm, aber nicht zu heiß, und Su Kyi arbeitete in ihrem Gemüsegarten, als sie Tin Win in der Tür erblickte, auf seinem Rücken Mi Mi. Er sah älter aus, als wäre er in den vergangenen Tagen erwachsen geworden. Vielleicht war es aber auch nur die Erschöpfung und die Anstrengung, die ihn zeichneten. Mi Mi schien ihm den Weg zu beschreiben, denn er ging um das Kleinholz, einen Schemel, einen Eimer und das Beil herum, als könne er alles sehen. Sie setzten sich auf die Bank an der Küchenwand. Su Kyi ließ ihre Harke fallen und lief zu ihnen.
»Habt ihr Hunger?«, fragte sie.
»Ja, ziemlich«, sagte Tin Win. Seine Stimme klang etwas tiefer als
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