Herzenhören
sonst, fast ein wenig fremd. »Und Durst.«
Su Kyi holte Reis und Curry und Tee. Sie aßen langsam, und mit jedem Bissen schien er wacher zu werden und zu Kräften zu kommen.
Nach dem Essen erklärte Tin Win, er wolle mit Mi Mi eine Wanderung machen und sie anschließend nach Hause bringen. Er fühle sich gut und ganz und gar nicht mehr müde. Su Kyi solle sich keine Sorgen machen, seine Beine würden ihn tragen, und er wäre bei Einbruch der Dunkelheit zurück. Versprochen.
Tin Win und Mi Mi liefen den holprigen Weg hinauf zur Kuppe und weiter über den Bergkamm. Er konzentrierte sich ganz aufs Gehen, wollte sehen, ob es ihm wieder gelänge, sich ihr anzuvertrauen, ob sie ihn auch heute wieder so geschickt um Hindernisse steuern würde.
»Erinnerst du dich an die vergangenen Tage?«, fragte Mi Mi, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.
»Kaum«, sagte er. »Ich muss viel geschlafen haben. Ich wusste nie, ob ich wach lag oder ob ich träumte. Ich hörte nichts als Rauschen und ein dumpfes Gurren oder Gurgeln.«
»Was war mit dir?«
»Ich weiß es nicht. Ich war besessen.«
»Wovon?«
»Von der Angst.«
»Wovor hattest du Angst?«
»Dich zu verlieren. Als ich zu eurem Hof kam und niemand da war und die Nachbarn nicht wussten, wo ihr seid, bekam ich Angst. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber die Furcht wurde mit jeder Minute schlimmer. Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen. Wo warst du?«
»Wir waren bei unseren Verwandten oben in den Bergen. Eine Tante ist gestorben, und wir mussten im Morgengrauen los.« Sie hielt ihren Mund ganz nah an sein Ohr. »Du musst keine Angst haben. Du kannst mich gar nicht mehr verlieren. Ich bin ein Teil von dir so wie du von mir.«
Tin Win wollte etwas antworten, da trat sein linker Fuß ins Leere. Das Loch in der Erde war mit Gras überwachsen, und Mi Mi hätte es vermutlich selbst dann nicht gesehen, wenn sie darauf geachtet hätte. Tin Win hatte das Gefühl, als würde er mitten im Schritt angehalten und würde sich fortan nur noch zeitverzögert weiterbewegen. Sein Fuß tastete nach dem Boden, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er ihn wieder berührte. Tin Win taumelte, verlor das Gleichgewicht und merkte, wie er stürzte, wie er seine Hände instinktiv nach vorn reißen und sein Gesicht schützen wollte, doch stattdessen Mi Mis Körper fester an sich zog. Er wusste nicht, wie tief er fallen, wann und wo er aufschlagen würde, ob er im Gras landen oder ein Stein oder ein Busch ihm das Gesicht verletzen würde. Der Sturz schien kein Ende zu nehmen, und die Ungewissheit, was ihn erwartete, war das Schlimmste. Er drehte den Kopf zur Seite und zog das Kinn an die Brust. Mi Mi klammerte sich fest an ihn. Sie überschlugen sich fast kopfüber, Tin Win merkte, wie er Mi Mi unter sich begrub und sie dann seitwärts wie ein Baumstamm die Wiese hinunterrollten.
Er war gestürzt, aber er war auch aufgeschlagen. Die Tiefe war nicht endlos gewesen.
In einer Senke kamen sie zum Liegen. Mi Mi lag auf ihm. Erst jetzt bemerkte Tin Win, wie sehr sie sich aneinander festhielten. Er wollte nicht loslassen. Ihr Herz schlug schnell, er hörte es nicht nur, es klopfte auf seiner Brust. Auf ihm liegend fühlte Mi Mi sich ganz anders an. Sie war noch leichter als auf seinem Rücken, und er spürte nicht nur die Arme um seinen Hals. Ihre Brust lag auf seiner, ihr Bauch auf seinem Bauch, ihre Longys waren verrutscht und ihre nackten Beine ineinander verschlungen. In ihm wuchs ein Gefühl, das er nicht kannte, ein Verlangen nach mehr. Er wollte Mi Mi haben und sich ihr geben, er wollte eins sein mit ihr, ihr gehören. Tin Win erschrak über sein Begehren und drehte sich zur Seite.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte sie.
»Nicht sonderlich. Du?«
»Nein.«
Mi Mi machte ihm das verdreckte Gesicht sauber. Sie strich über seine Stirn und entfernte die Erde von seinen Mundwinkeln. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Lippen. Tin Win erschauderte.
»Kannst du weiterlaufen?«, fragte sie. »Ich glaube, es fängt gleich an zu regnen.«
Tin Win stand auf und nahm Mi Mi wieder auf seinen Rücken. Sie liefen das Feld hinunter. Schon bald hörten sie den Fluss rauschen. Es klang wild und voll, weil er durch den Regen der vergangenen Wochen mehr Wasser führte als sonst. Er hatte hier eine kleine Schlucht in die Erde gefressen; weiter unten gab es eine Brücke, die aber von hier aus schwer zu erreichen war. Tin Win versuchte, mit Hilfe des tosenden Wassers unter
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