Herzenhören
Mi Mi schloss die Augen und atmete tief ein und aus.
Er streichelte ihre Füße. Seine Finger ertasteten ihre Zehen, glitten über die Nägel und die kleinen Knochen, auf denen sich die Haut spannte, über die Fesseln. Die Waden hoch bis zum Longy – und wieder zurück. Einmal. Zweimal. Mi Mis ganzer Körper begann zu zittern. Sie hob ihre Hüfte und schob ihr Hemd ein wenig nach oben, nahm seine Hand und legte sie auf ihren nackten Bauch. Sein Herz klopfte, nicht schnell, aber laut und kräftig.
Er fühlte ihren Atem unruhiger werden. Er suchte ihren Nabel. Seine Finger glitten über ihren Körper, berührten ihn kaum. Zwischen seinen Fingerspitzen und ihrer Haut entstand eine Spannung, die aufregender war als jede Berührung. Er tastete sich vor, langsam immer tiefer unter den Longy, bis er den Ansatz ihrer Schamhaare fühlte. Er kniete sich hin, sie sah, wie sich sein Longy um die Hüfte zu einem kleinen Zelt spannte und erschrak. Nicht über den Anblick, nicht über seine Finger, sondern über ihre Lust, über ihren Atem und ihr Herz, das immer schneller und heftiger schlug. Vorsichtig zog er die Hand zurück. Sie wollte mehr und hielt ihn fest, aber er legte seinen Kopf auf ihre Brust und bewegte sich nicht. Er wartete. Es dauerte lange, bis sich ihr Herzschlag beruhigte.
Es war ein Laut, an den er sich nicht gewöhnen konnte, und er verspürte vor jedem Pochen eine Ehrfurcht und einen Respekt, dass ihm schauderte. Da schlug es, nur Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Ihm war, als könne er durch einen Spalt in den Schoß der Welt spähen. Ihr Herzschlag. Unheimlich. Betörend schön.
Der Gesang des Lebens. Und des Todes. Der Gesang der Liebe.
15
D er Wind hatte aufgefrischt. Er kräuselte das Wasser, und Mi Mi hörte winzige Wellen an die Steine zu ihren Füßen schwappen. Sie hockte am Ufer des kleinen Sees und beobachtete Tin Win. Er war kein schlechter Schwimmer. Er hatte einen ganz eigenen Stil entwickelt, lag seitwärts im Wasser und schob immer eine Hand vor seinen Körper, so dass er Hindernisse fühlen konnte. Er war vorsichtig und blieb am liebsten in der Nähe des Ufers, wo die Füße noch auf den Grund reichten. Aber er hatte Ausdauer, und er konnte sehr gut tauchen. Mi Mi liebte das Wasser. Schon als kleines Mädchen hatten ihre Brüder sie mitgenommen zu den vier Seen, etwa eine Stunde Fußmarsch von Kalaw entfernt. Sie hatten sie abwechselnd getragen und ihr früh Schwimmen beigebracht. Diese Ausflüge gehörten zu Mi Mis schönsten Erinnerungen. Im Wasser konnte sie sich mit ihren Brüdern messen und mit anderen Kindern toben. Sie war schnell und gewandt, die beste Taucherin von allen. Im Wasser spielten Füße keine Rolle.
Sie hatte Tin Win im Sommer des vergangenen Jahres zu den Seen geführt, und es gab kaum einen Ort, an den sie sich lieber zurückzogen. Sie gingen immer zum kleinsten der vier Teiche, der etwas abseits und hinter einer kleinen Pinienschonung versteckt lag, angeblich die meisten Wasserschlangen beherbergte und deshalb von den anderen Kindern und Jugendlichen gemieden wurde. Zweimal hatte sie eine Schlange beobachten können. Als sie Tin Win fragte, ob er Angst vor ihnen habe, lachte er und meinte, er hätte noch nie eine gesehen.
Tin Win war in die Mitte des Sees geschwommen, dort ragte ein Stein aus dem Wasser, auf dem man sitzen konnte. Er kletterte hinauf und ließ sich vom Wind und der Sonne trocknen. Mi Mi spürte, wie sie Sehnsucht bekam. Fast vier Jahre waren vergangen, seit sie Tin Win im Kloster begegnet war, und es gab, von den ersten Wochen abgesehen, keinen Tag, an dem sie sich nicht gesehen hätten. Sie wartete nach der Schule auf ihn, oder er kam nach dem Unterricht auf den Markt, und an den Wochenenden holte er sie schon morgens zu Hause ab. Ihr seid ja unzertrennlich, hatte ihre Mutter einmal halb im Scherz gesagt. Unzertrennlich. Mi Mi hatte, wie es ihre Art war, lange über das Wort nachgedacht. Sie hatte es im Kopf hin und her gewendet, um zu sehen, ob der Klang ihr gefiel, ob es passte, und nach ein paar Tagen kam sie zu dem Schluss, dass es keine bessere Beschreibung gebe. Sie waren unzertrennlich. Sie bekam Herzklopfen, sobald sie ihn sah, und ihr fehlte etwas, wenn Tin Win nicht bei ihr war. Als wäre die Welt nur in seinem Beisein rund. Sie spürte seine Abwesenheit am ganzen Körper. Der Kopf tat ihr weh. Die Beine und Arme waren schwer und lahm. Es zog im Bauch und in der Brust. Selbst das Atmen war mühsamer ohne ihn. Die Beschwerden
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