Herzenhören
Tin Win, dass der Onkel gar nicht reagierte, als er ihm die Geschichten vom Vorabend wiederholte. Er hörte nicht zu, oder es interessierte ihn nicht, vermutlich beides. Das machte die Sache einfacher. Dieselben Fragen, dieselben Antworten. Und so entstand Abend für Abend eine flüssige Unterhaltung, die der Onkel jedes Mal mit dem letzten Bissen und nach genau zwanzig Minuten mitten im Satz beendete. Er erhob sich, erklärte, dass er noch zu arbeiten hätte, wünschte Tin Win eine gute Nacht und einen schönen nächsten Tag und verschwand.
Heute aber war alles anders. U Saw stand in der Halle und begrüßte einen Besucher. Sie verneigten sich mehrmals und redeten in einer Sprache, die Tin Win fremd war. Als der Onkel ihn kommen sah, winkte er ihn durch in sein Büro. Tin Win hockte sich auf die Kante eines Ledersessels und wartete. Der Raum war dunkel, an den Wänden stapelten sich Bücher bis unter die Decke. Auf dem lederbezogenen Schreibtisch stand ein Ventilator, der heiße Luft durch das Zimmer blies. Nach ein paar Minuten kam U Saw. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und blickte Tin Win an.
»Du hast in Kalaw die Klosterschule besucht. Richtig?«
»Ja.«
»Du kannst rechnen?«
»Ja.«
»Lesen?«
»Ja. Braille. Früher…«
»Und schreiben?«
»Bevor ich erblindete, konnte ich schreiben.«
»Du wirst es schnell wieder lernen. Ich möchte, dass du in Rangun eine Schule besuchst.«
Tin Win hatte auf das Bahnticket nach Kalaw gehofft. Vielleicht nicht morgen, aber in den nächsten Tagen. Die Aussicht darauf hatte ihm die Kraft gegeben, die Tage zu überstehen und die Stadt zu entdecken. Er sollte zur Schule. In Rangun. Er wollte schreien und biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass dies kein Vorschlag war. U Saw machte keine Vorschläge. Er teilte mit, was zu tun war. Der Respekt vor dem älteren Familienmitglied verbot es Tin Win, etwas anderes als Demut und Dankbarkeit zu zeigen. Fragen stellte in diesem Haus nur einer.
»Ich bin deine Großzügigkeit nicht wert, Onkel.«
»Schon gut, schon gut. Ich kenne den Direktor der St. Pauls High School. Du wirst ihn morgen früh besuchen. Der Fahrer bringt dich hin. Eigentlich bist du zu alt, aber er will dich testen. Ich bin sicher, er kann uns helfen.«
U Saw stand auf. »Ich muss mich jetzt um meinen Gast kümmern. Morgen Abend wirst du mir berichten, wie es bei St. Pauls war.«
U Saw ging in den Salon, wo der japanische Konsul auf ihn wartete. Er dachte kurz darüber nach, ob Tin Wins Dankbarkeit echt war. Sein Gesicht hatte heftig gezuckt, als er ihn von seinen Plänen unterrichtet hatte. Warum? War es wichtig? Der Astrologe hatte ihm ohnehin keine Wahl gelassen. Die großzügige Spende an das Krankenhaus in Rangun würde nicht helfen. Ein Verwandter musste es sein, und es durfte sich nicht um eine einmalige Tat handeln. Er musste sich seiner annehmen. Und außerdem: Hatten die Warnungen des Astrologen und U Saws Barmherzigkeit nicht schon erste Erfolge gebracht? Hatte er nicht zwei Tage nach der Operation den lang ersehnten Vertrag über den Verkauf von Reis an die Regierung unterschrieben? Aßen nicht bald alle britischen Garnisonen in der Hauptstadt seinen Reis? Auch die Verhandlungen über den Kauf der Baumwollfelder am Ufer des Irawadi liefen seit der Ankunft Tin Wins sehr vielversprechend.
Vielleicht, so dachte U Saw, habe ich mir einen Glücksbringer ins Haus geholt. Für die nächsten zwei Jahre jedenfalls sollte er in Rangun bleiben. Möglicherweise würde er in seinem ständig wachsenden Unternehmen Verwendung für ihn finden. Warum sollte aus Tin Win nicht ein brauchbarer Assistent werden? Im Haus störte er nicht. Außerdem erzählte er beim Abendessen immer neue und recht unterhaltsame Geschichten.
5
G eliebte Mi Mi,
hast du die Vögel gehört heute Morgen? Waren sie lauter oder leiser, haben sie schöner gesungen als sonst? Haben sie dir verraten, worum ich sie bat? Ich bin gestern Abend durch den Garten gegangen und habe ihnen zugeflüstert, wie sehr ich dich liebe, und sie haben versprochen, es weiterzutragen, von Busch zu Busch und durch die Nacht von Baum zu Baum, durch das Delta und den Sittang hinauf, die Berge hinauf bis nach Kalaw. In den Bäumen vor eurem Haus wollten sie sitzen und dir erzählen, von meiner Liebe, meiner Sehnsucht.
Und du, geliebte Mi Mi? Ich wünsche mir nichts mehr, als dass es dir gut geht. Oft stelle ich mir vor, was du machst am Tag, ich sehe dich auf dem Markt sitzen, auf dem Rücken eines
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