Herzensach - Roman
gesamte Verhalten des Pfarrers erschien ihm jetzt seltsam. Vielleicht war es Rudolf Pedus gar nicht darum gegangen, »Die Stimme Gottes« in Bewegung zu setzen, sondern nur darum, ihn gefangenzunehmen? Vielleicht machte es ihm einfach Spaß, jemanden in seinem Brunnen einzusperren. (Eine Geschichte von Stephen King?) Oder sollte es eine Strafe sein? Vielleicht waren alle im Dorf dabei, verrückt zu werden? Eine infektiöse Krankheit. (Wer schrieb solche Geschichten? Boris Vian?) Was war mit dem Bauern, der in der Dunkelheit völlig weggetreten am Straßenrand gelegen hatte? (Gustav Meyrink?) Was hatten der Wirt und seine Frau darüber erzählt, um ihn zu beruhigen? Eine genetisch bedingte Ursache? (Science-fiction? P. K. Dick?) Jakob lachte auf. Wenn die Menschen hier eine Erbkrankheit hatten, wie es sonst nur in von der Außenwelt abgeschotteten Alpentälern vorkam (wie hieß die Autorin von Heidi?), dann machte sie die Dorfbewohner in erster Linie aggressiv. Wilhelm Weber hatte sich ihm gegenüber schließlich auch kaum wie ein normaler Mensch verhalten. (Genau wie bei Richard Brautigan – haargenau!) Dagegen war der Pastor ein friedlicher Mensch. Möglicherweise wollte ihn Rudolf Pedus von etwas fernhalten. (Vielleicht doch eher John Fante?!) Von Katharina? Unsinn, der Pfarrer wußte nichts von seinen Wünschen. Und doch blieb das Gefühl, Rudolf Pedus habe ihn in Sicherheit bringen wollen. (Doch bloß Karl May.) Vor Katharina? Zweifellos gab es eine Reihe von Herzensachern, die ihm nicht freundlich gesinnt waren, die Aggressivität an den Tag gelegt hatten. Doch Katharina zählte er, trotz ihres schlagkräftigen Ausfalles gegen ihn, nicht dazu. Der Schlachter, seine Frau, die Frau des Arztes waren ihm feindlich gesinnt. (Irgendein Krimi von ...?) Und wenn er es recht bedachte, konnte unter Umständen von dem Wirt und dem Gutsherrn Gefahr ausgehen. Doch die wenigen Menschen aus dem Tal, denen er begegnet war, hatten ihn freundlich aufgenommen. Im selben Moment wußte er, daß es nicht so war. Nein, sie hatten sich alle reserviert verhalten, selbst der Förster. Auch hinter dem Liebesbedürfnis seiner Tochter hatte etwas gelauert, etwas, was Jakob nicht in Worte kleiden konnte. Selbst bei der Mutter des Wirts, die ihn so offen mit dem Dorfklatsch versorgte, hatte Spott mitgeklungen, als erzähle sie alles einem, der doch bald gehängt würde. (Keine Geschichte – bloß Realität!)
Jakob lachte über seine absurden Phantasien im Dunkel der Brunnenanlage. Nur keine Panik. Er legte den Arretierhebel um und spürte dabei, daß er ziemlich locker saß. Er zog ihn heraus und brachte ihn in die Nähe des elektrischen Lichts beim Treppenaufgang. Der Hebel hatte die Form eines Ankers. Wenn er ihn mit einem Seil daran nach oben über den Brunnenrand werfen könnte, würde er sich vielleicht verhaken, und er konnte daran hinaufklettern. (Trick aus einem alten Zorro-Film. Noch schwarzweiß.) Wie hatte er das nur übersehen können, es gab alles, um aus dem Brunnen herauszuklettern. Es gab ein Seil, das lang genug war. Es diente als Treppengeländer und ließ sich aufknoten. In kurzer Zeit hatte Jakob einen Wurfanker gebaut. Das einzige Problem war der geringe Platz. Er konnte nicht weit ausholen. Doch alles ging ganz einfach: Der Anker verfing sich an einem vereinzelten Steigeisen in etwa halber Höhe. Dort fand Jakob Halt in einer Nische der Mauer. Der Raum genügte, um kräftig auszuholen und den Anker nach oben zu werfen. Schon beim zweiten Wurf verfing er sich außerhalb des Brunnens. Trotzdem benötigte Jakob viel Kraft, um sich hochzuziehen; als er am Brunnenrand anlangte, zitterten ihm die Armmuskeln, und er ließ sich erschöpft auf die Erde fallen. Kaltes Mondlicht strich zwischen den Wolken über die Erde. Vom Pfarrhaus blinkte die Türlaterne. Er sah sich um und entdeckte erschrocken, daß der Anker von der Wurzel eines kleinen Busches gehalten wurde, die fast durchgescheuert war. Doch im selben Moment amüsierte es ihn, an einem solch seidenen Faden gehangen zu haben.
Ein kühler Wind war aufgekommen, ließ die Bäume rauschen. Jakob fror, betrachtete seine von Lisa aufgeschlitzte Hose und überlegte einen Augenblick, sie zu wechseln, doch dann entschied er sich, zuerst ins Pfarrhaus zu gehen. Es mußte eine vernünftige Erklärung für das Verhalten des Pfarrers geben. Er stand auf, klopfte seine Kleidung ab. Jakob war überzeugt, Rudolf Pedus hatte ihn schützen wollen. Aber wovor? Vor dem Schlachter und
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