Herzensbrecher: Roman (German Edition)
brauche sich keine Sorgen zu machen. Solche Gespräche führte sie ständig mit Kollegen. Von Jasons Mutter erfuhr sie, dass Dr. West kein Psychiater, sondern Internist war. Maxine ging hinaus, um den Anruf im Schwesternzimmer entgegenzunehmen. Sie wollte dieses Gespräch nicht in Jasons Hörweite führen. Es handelte sich ohnehin nur noch um eine Formalität. Lächelnd nahm sie den Hörer und erwartete, sich mit einem freundlichen, aber auf ihrem Gebiet unerfahrenen Kollegen zu unterhalten.
»Dr. West? Ich bin Dr. Williams, Jasons Psychiaterin«, stellte sie sich mit ihrer jung und angenehm klingenden Stimme vor.
»Ich weiß«, antwortete ein Mann in herablassendem Ton. »Seine Mutter hat mich gebeten, Sie anzurufen.«
»Das sagte sie mir. Wir haben so weit alles in die Wege geleitet. Heute Nachmittag wird Jason in Silver Pines aufgenommen. Ich glaube, dass er dort momentan am besten aufgehoben ist. Er hat eine hohe Dosis Schlaftabletten geschluckt.«
»Ist es nicht erstaunlich, was Kinder tun, um Aufmerksamkeit zu erregen?«, entgegnete Dr. West.
Maxine traute ihren Ohren nicht. Dieser Bursche war nicht nur herablassend, sondern auch ein Vollidiot. »Dies war bereits sein zweiter Versuch. Und eine dreifach tödliche Dosis ist wohl kaum das richtige Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen. Jason teilt uns laut und verständlich mit, dass er sterben will. Das müssen wir ernst nehmen.«
»Zu Hause bei seiner Mutter wäre der Junge besser aufgehoben«, entgegnete Dr. West in einem Ton, als spräche er mit einem Kind oder einer Lernschwester.
»Ich bin seine Psychiaterin«, antwortete Maxine mit fester Stimme, »und nach meiner Einschätzung wird Jason innerhalb einer Woche, wenn nicht gar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden sterben, wenn wir ihn nach Hause schicken.« Deutlicher konnte man es nicht formulieren, und so hätte sie es Jasons Mutter gegenüber nie ausgedrückt. Aber bei diesem arroganten Dr. West nahm sie kein Blatt vor den Mund.
»Diese Einschätzung halte ich für geradezu hysterisch«, sagte er und klang verärgert.
»Seine Mutter hat zugestimmt, ihn einweisen zu lassen. Jason muss unter ständiger Aufsicht stehen. Irgendein fauler Kompromiss genügt nicht.«
»Sperren Sie alle Ihre Patienten ein, Dr. Williams?« Jetzt wurde er beleidigend, und Maxine begann, vor Wut zu kochen. Für wen hielt er sich eigentlich?
»Nur diejenigen, die sich umbringen wollen, Dr. West. Der Gesundheit Ihrer eigenen Patientin wird es vermutlich auch nicht zuträglich sein, wenn sie ihren Sohn verliert, oder?«
»Die Beurteilung des Gesundheitszustands meiner Patienten überlassen Sie bitte mir«, erwiderte er gereizt.
»Einverstanden. Und ich schlage vor, dass Sie Ihrerseits die Beurteilung des Zustands meiner Patienten mir überlassen. Jason Wexler ist seit seinem ersten Selbstmordversuch mein Patient, und ich bin durchaus befähigt, seinen Zustand einzuschätzen. Falls Sie sich über meine Qualifikationen im Internet informieren wollen … Sie sind herzlich eingeladen, Dr. West. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss mich um meinen Patienten kümmern. Danke für den Anruf.«
Dr. West schimpfte noch, während sie auflegte. Als sie Jasons Zimmer betrat, ließ sie sich ihren Zorn nicht anmerken. Es war schließlich nicht Mrs. Wexlers Problem, dass sie und der Internist offenbar aneinandergeraten waren. In Maxines Augen war er ein großspuriger Trottel, der mit dem Leben von Menschen spielte. Für Jason jedenfalls war er eine echte Bedrohung.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Mutter des Jungen besorgt, und Maxine hoffte, dass man ihr nicht ansah, wie aufgebracht sie war.
»Bestens.« Maxine untersuchte Jason, blieb noch etwa eine halbe Stunde und beschrieb ihm Silver Pines so ausführlich wie möglich. Der Junge heuchelte Desinteresse und Furchtlosigkeit. Doch Maxine war sicher, dass er schreckliche Angst hatte. Erst wäre er beinahe gestorben, und jetzt ließ man ihn nicht länger vor dem Leben davonlaufen, sondern zwang ihn, sich seinen Problemen zu stellen.
Beim Abschied versicherte sie seiner Mutter, dass sie Tag und Nacht telefonisch erreichbar sei. Nachdem Maxine Jasons Entlassungspapiere ausgefüllt hatte, verließ sie das Krankenhaus und ging nach Hause. Während des kurzen Weges die Park Avenue entlang kochte sie innerlich wegen dieses Idioten Dr. West. Als sie zu Hause eintraf, schliefen Daphne und ihre Freundinnen immer noch. Es war immerhin fast zwölf Uhr
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