Herzensjunge
Flüstert.
»Bist du noch wach,Toni?«
Als ich noch klein war, habe ich so geflüstert, wenn ich vor ihrem Schreibtisch stand und wusste, dass ich sie nicht stören sollte. Eine Sekunde lang denke ich daran, mich schlafend zu stellen. Doch auch Mama hat immer geantwortet, wenn ich sie flüsternd störte.
»Andreas und Lena sind was trinken gegangen«, sage ich.
»Er vergisst in letzter Zeit ziemlich oft, dass er erst sechzehn ist«, sagt Mama, »muss es denn immer Mitternacht werden?«
»Ich finde, er ist viel reifer geworden«, sage ich.
Meine Mutter scheint erstaunt zu sein über diese Antwort, denn sie kommt in mein Zimmer und setzt sich auf die Bettkante. Sie streicht mir übers Haar. Ich denke an Jan und will nicht, dass diese Szene sich jetzt über eine andere schiebt. Das geht nicht gegen Mama.
»Du veränderst dich auch sehr«, sagt Mama, »meine Küken werden auf einmal so schnell groß.«
»Du hast ja noch Adrian«, sage ich.
»Vielleicht ist es die Freundschaft mit Jan«, sagt Mama.
Ich halte die Luft an. Bezieht sich das nur wieder auf Andreas?
»Du magst ihn doch auch«, sagt Mama.
Mir fällt schwer, ihr nicht alles zu erzählen. Mama ist so nah. Doch dann beschließe ich, mein Geheimnis noch zu hüten. Hab beinah Angst, dass der Glanz verloren gehen könnte, wenn ich davon spreche. »Der Alltag holt einen noch schnell genug ein«, sagt Oma.
Vertrauen auf den ersten Blick. Ist das so gut wie Liebe auf den ersten Blick? Könnte ja rein freundschaftlich gemeint sein. Typisch: Kaum freue ich mich, kommen mir die Zweifel. Das ist eine Macke von mir. Darum bin ich oft zu Hennes & Mauritz gerannt und habe umgetauscht, was ich eine Stunde vorher gekauft hatte. Doch zu Hasi und Mausi gehe ich nur noch selten. Ist wirklich schwer, ein Teil zu finden, das nicht schon die halbe Klasse am Körper hat.
Du magst ihn doch auch, hat Mama gesagt.Was wäre, wenn ich ihr jetzt sagte, dass er die Liebe meines Lebens ist?
»Meine Kleine«, sagt Mama.
»War der Film gut?«
»Die Vorstellung war ausverkauft«, sagt Mama, »wir haben keine Karten mehr gekriegt. Die anderen Filme hatten schon angefangen.«
»Wo wart ihr denn dann die ganze Zeit?«
»In einem vegetarischen Imbiss«, sagt Mama, »anschließend sind wir um die Alster gegangen und haben frische Herbstluft geatmet.«
Ich spüre deutlich, dass sie ganz andere Sehnsüchte hat.
»Hoffentlich wird Papa damit fertig, dass Oma eine Herzklappe vom Schwein kriegt«, sage ich.
Mama lacht. Doch wirklich heiter klingt das nicht. Hoffentlich muss ich mir da keine Sorgen machen. Noch ein Grund, mit Oma zu reden. Meine Mutter hebt den Kopf. Ich höre auch die Wohnungstür gehen.
»Da kommt Andreas«, sagt Mama und atmet auf.
Würde sie das Jugendschutzgesetz machen, müssten alle spätestens um acht zu Hause sein.
23
Ich ziehe die Jeans von Only an. Die sitzt einfach am besten. Dazu den vanillefarbenen Rollkragenpulli. Der ist ärmellos, doch auf meinen Armen ist noch eine Ahnung von Bräune.Vielleicht ein bisschen kühl, der Pulli, doch die werden ja wohl heizen im Bootsmann.
Das Wetter ist auf einmal sehr herbstlich geworden. Mich könnte es kaum locken, bei Nacht und Nebel um die Außenalster zu gehen. Ich kenne die Strecke um den See. Unser Sportlehrer treibt uns gelegentlich dahin. Dauerlauf nennt er das und das klingt noch mehr nach Schweiß als Joggen. So oder so sind es satte sieben Kilometer.
Kurz bevor ich aufbreche, ziehe ich doch noch einen kleinen Zauber von Oma aus dem Schrank. Einen seidenen Schal, der auch so ins Vanillige geht. Kleine Spiegel
sind aufgenäht, kaum größer als Konfetti. Ich lege den Schal locker um die Schultern und knote ihn.
»Triffst du dich mit Hanna?«, höre ich Mama fragen, als ich vor den großen Spiegel im Flur trete. Soll ich lügen? Es wäre einfach. Doch ich denke, die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Das bin ich Jan und mir schuldig. Und auch Mama.
Ich nähere mich ihrem Arbeitszimmer und bleibe in der Tür stehen. Ich spreche leise. Das müssen nicht alle hören.
»Ich treffe mich mit Jan«, sage ich.
Mama schaut von ihrem Schreibtisch auf. »Das ist es also«, sagt sie, »die Veränderung, die ich in den letzten Tagen an dir gespürt habe.«
Deute ich das jetzt falsch oder sieht sie ganz wehmütig aus?
»Komm nicht so spät«, sagt sie, »Papa kocht heute Abend.«
Ich nicke und schicke ihr eine kleine Kusshand über die Schwelle.
»Schon alles für die Schule vorbereitet?«, fragt Papa. Ich habe
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