Herzensjunge
Kunstpostkarte. Auf meiner ist ein schwarzhaariges Mädchen in einem roten Kleid zu sehen, das eine Kugel hält. The Chrystal Ball ist der Titel des Bildes und gemalt wurde es von keinem anderen als diesem Waterhouse.
Was weiß Oma?
Hat sie gehört, was Jan zu mir gesagt hat an dem Tag,
als er zum ersten Mal bei uns war? Hat Mama gequatscht? Oma schreibt, dass sie mich gerne bei sich zu Hause sehen würde, bevor sie ins Krankenhaus geht. »Gemütlich auf eine Tasse Tee«, schreibt sie. Klingt trotzdem ernst.
Ich gehe auf die Suche nach dem Telefon, um gleich einen Termin mit Oma zu machen, und finde es bei Mama, die an ihrem Schreibtisch sitzt und angestrengt auf ihren Monitor schaut. Ich glaube, ihr fehlt ein Stift, auf dem sie kauen könnte.
»Schreibst du an der Wahren Geschichte ?«, frage ich.
»Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?«, fragt Mama.
Ich bin vom Donner gerührt. Halte lieber den Mund, um nicht zu stottern.
»Ich lasse diese Isabel gerade sagen, dass sie ein Blitz getroffen habe, als sie ihn zum ersten Mal sah. Liebe auf den ersten Blick eben.«
»Schreibst du einen Roman oder Die Wahre Geschichte ?«, frage ich.
Mama seufzt. »Ich werde dir ein Geständnis machen«, sagt sie. »An der Wahren Geschichte ist nicht alles wahr. Mindestens die Hälfte ist erfunden.«
Es gibt Tage, die plätschern einfach so dahin, und es gibt andere, da kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus.
»Wissen das die anderen Redakteure?«, frage ich.
»Ach, in dieser Zeitschrift sind doch alle Märchenerzähler«, sagt Mama.
Sie muss eine Pille geschluckt haben, die sie zwingt, nichts als die Wahrheit zu sagen.
»Glaubst du also an die Liebe auf den ersten Blick?«, fragt Mama.
Mir kommt der Gedanke, dass das ein hinterlistiger Trick von Mama ist, meine intimsten Geheimnisse zu erfahren. Egal. »Ja«, sage ich.
Mama nickt. »Das dachte ich mir«, sagt sie.
Hoffentlich kommt sie jetzt nicht auf die Idee, mit mir über Verhütung sprechen zu wollen. Ich mache schnell einen Vorstoß in eine andere Richtung. »Hast du die Karte von Oma gelesen?«, frage ich.
»Das habe ich«, sagt Mama.
Sie hat also tatsächlich eine Wahrheitspille geschluckt. Ich hätte schwören können, dass sie leugnet. Doch Omas Karte steckte noch nicht einmal in einem Kuvert wie die von der Hettich.
»Was hältst du davon?«, frage ich.
»Oma will sich einen netten Nachmittag mit ihrer einzigen Enkelin machen«, sagt Mama.
»Klingt so nach Endzeit.«
»Quatsch«, sagt Mama.
Ich nehme das Telefon und gehe aus dem Zimmer. Ein Rest von Privatsphäre muss mir gestattet sein. Oma nimmt sofort ab.
»Ich habe was in meiner Kristallkugel gesehen«, sagt Oma, »du weißt schon, so eine, wie sie die Wahrsagerinnen haben. Darum die Karte.«
Was hat sie gesehen? Ich bin beunruhigt. Nicht dass Oma stirbt.
»Einen jungen, dunkelhaarigen Mann habe ich gesehen«, sagt Oma, »sehr gut aussehend. Ich glaube, der romantische Typ.«
Ich lache vor lauter Erleichterung, obwohl ich langsam glaube, in Big Brother geraten zu sein und unter ständiger Beobachtung zu stehen.
»Hast du morgen Nachmittag um vier Uhr was vor?«, fragt Oma.
»Nur eine Erdkundestunde bei meiner Lieblingslehrerin«, sage ich.
»Kannst du um fünf?«, fragt Oma.
Kann ich. »Spielst du eigentlich noch auf deinem Klavier?«, frage ich.
»Das sollte ich morgen mal tun«, sagt Oma, »ich spiele dir meine Lieblingslieder vor, und dann gucken wir mal, ob ich deine kenne.«
»Wann wirst du operiert?«
»Kommenden Montag«, sagt Oma mit einer hohen Stimme, und auf einmal weiß ich, dass sie Angst hat. Ich habe sie so endlos lieb. Das wird einem immer erst so richtig klar, wenn Gefahr im Verzug ist. Ich schicke Oma noch ein Küsschen durch die Leitung und lege dann das Telefon wieder auf Mamas Schreibtisch. Mama tippt eifrig.
»Und dann waren sie glücklich bis an ihr Ende«, sagt sie.
Was schreibt sie da? Das Script für Dornröschen oder Shrek?
28
Ich kämpfe mich aus dem Schlaf hoch und bin froh, dem Traum entkommen zu sein. Immer die gleiche Szene: Jan fällt aus einer großen Höhe. Glas zerspringt und splittert und er schlägt mit dem Kopf auf.
Ich stehe da und kann ihm nicht helfen.
Im Bad geht das Licht an. Ein schwacher Schein fällt durch das Glas der Tür in mein Zimmer. Es kann nicht mitten in der Nacht sein. Gleich wird Papa kommen, um mich zu wecken, und der Tag beginnt.
Nur nicht wieder einschlafen.
Ich sehe Papas dunkle Silhouette hinter der Tür, und
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