Herzensjunge
am Hafen bei den Schiffsausrüstern kaufen kann. Zum Kinn hin geschlossen. Kapuze.
In Husum ist man dem Meer doch noch deutlich näher.
Erst als er schon vor mir steht, sehe ich seinen Rucksack. Kein Eastpak wie ich ihn habe. Schon größeres Gepäck. Er scheint schwer zu sein. Die Kunstbücher wird er darin haben.
Wir umarmen uns. Die Schneeflocken kleben ihm in den Locken, die einen Ausweg aus Mütze und Kapuze gefunden haben. Meine Haare klatschen mir am Kopf.
»Deine Haare sind rot«, sagt Jan, »ganz rot von der Nässe.«
Er nestelt einen Schal aus seiner Jacke und fängt an, mich trocken zu reiben.Vielleicht sollten wir einfach aus dem Wetter weg und in Omas Wohnung gehen. Trotzdem berührt mich die Trockenrubbelei.
Oben wartet auf uns die Geborgenheit. Ich schalte alle kleinen Lampen an. Die rote. Die orange. Die gelbe. Die weiße. Lege meinen gar nicht wetterfesten Kurzmantel und meine nassen Strümpfe über die Heizung. Gehe auf nackten Füßen in die Küche.
Jan steht am Tresen und packt den Rucksack aus. Ein duftendes Brot. Eier. Butter. Milch. Sahne. Die dänischen Speckstreifen, die tabu bei uns sind. Ich denke an Mama, die es gerne weniger gesund hätte. Ich lache.
»Du hältst mich jetzt für ein Hausväterchen«, sagt Jan, »ich bin da hineingerutscht. Sonst gäbe es nichts zu essen bei Jens und mir.«
»Du nennst ihn beim Vornamen?«
»Früher habe ich Papa gesagt.Wie du zu deinem.«
»Früher?«, frage ich.
»Seit dem Sommer sage ich es nur noch selten.«
»Und wenn du an deine Mutter denkst?«
»Dann denke ich ›Mama‹«, sagt Jan.
Er öffnet die Kühlschranktür und verstaut Eier und Speck darin. Milch und Sahne stellt er neben den Herd.
»Ich hoffe, deine Oma hat Kakao. Den habe ich vergessen.«
Ich öffne den kleinen Hängeschrank und hole eine große Dose Van Houten hervor. Jan sieht den Zucker und nimmt auch den.
Das wird ja das reinste Diätgetränk.
»Du hast doch sicher nichts gegen heißen Kakao?«, fragt Jan.
»Ich versuche gerade abzunehmen«, sage ich kleinlaut.
»Abnehmen?«, fragt Jan, »du bist doch überhaupt nicht dick.«
»Vielleicht versuche ich auch, kleiner zu werden«, sage ich, »elfiger.«
Jan legt die Zuckertüte ab und stellt sich ganz dicht vor mich. Er ist einen halben Kopf größer, als ich es bin.
»Dein Pullover und deine Jeans sind auch nass geworden«, sagt er, »du solltest sie ausziehen.«
Ist das jetzt das Hausväterchen oder will Jan mich nackt? Ich zögere.
Da zieht er mich schon aus der hellen Küche ins Wohnzimmer, in dem nur die kleinen Lampen leuchten. Ich fühle mich nicht mehr ganz so im Scheinwerferlicht und werfe die nassen Klamotten ab.
Nein. Kein langsamer Striptease. Ich habe es eilig. Eilig, in Omas Schrank zu kramen und mir was anzuziehen.
»Du bist schön«, sagt Jan.
Hat Oma das nicht auch schon gesagt? Ich glaube es bald. Ein Glück, dass ich meinen besten BH anhabe. Den aus cremefarbener Spitze und das passende Höschen dazu. Ich brauche auch keinen Push-up mehr. Seit Max mich BMW genannt hat, sind meine Brüste gewachsen. Aus Solidarität, nehme ich an.
Jan streift sich den hellblauen Pullover ab, den ich so gerne habe. Sind wir jetzt dort angekommen, wo Hanna und Kalli waren? Will er mit mir schlafen und wird mich gleich ein Kleinkind schimpfen?
»Ich will noch warten«, sage ich leise, »wenigstens, bis ich vierzehn bin.«
»Lass mich nur nah bei dir sein«, sagt Jan, »und dich streicheln und küssen.«
Er zieht sein T-Shirt aus. Seine Jeans lässt er an.
Mir ist auf einmal so wunderbar warm, dass ich gar nicht mehr in Omas Schrank steigen will. Nicht einmal das weiche Plaid will ich, das Jan von der Lehne des Sessels nimmt.
Es ist dunkel geworden. Die kleinen Lampen spiegeln sich im Glas der Terrassentür. Draußen liegt ein Hauch von Schnee.
»Willst du den Kakao noch haben?«, fragt Jan.
»Später«, sage ich. Der Abend liegt vor uns.Vor halb zwölf müssen wir unser Liebesnest nicht verlassen.
»Was wolltest du mir zeigen?«, frage ich. »Im Alex sagtest du, du wolltest mir was zeigen.«
Jan steht auf und kommt mit dem Rucksack wieder. Ein Kunstbuch ist es, das er hervorholt.Vorne auf dem Titel ist die Lady of Shallot. Trotzdem schlucke ich an meiner Enttäuschung. Ich hatte so gehofft, dass Jan etwas von sich offenbart. Ich lege jetzt doch Omas Plaid über meine Schultern und schlage das Buch auf.
49
Die Fotografie, die ich in der Hand halte, ist nur eine von vieren, die ganz vorne im Buch
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