Herzensjunge
liegen. Doch sie ist die größte und die einzige in Schwarz-Weiß. Eine junge Frau sitzt an dem Flügel, den ich kenne. Oben auf dem Flügel liegt bäuchlings ein kleiner Junge und strampelt mit den Beinen in der Luft.
Die Frau mit den dunklen Locken lächelt. Ich kenne auch das Lächeln.
Der Junge lacht, dass ich glaube, sein Jauchzen hören zu können. Er ist auf dem Foto jünger als mein kleiner Bruder heute.Vielleicht vier.
»Sie sieht aus wie du«, sage ich.
»Ja«, sagt Jan.
»War sie Pianistin?«
»Nein. Sie spielte Geige. Erst in einem Orchester. Später, als ich da war, gab sie Unterricht und trat nur noch in kleinen Ensembles auf. Doch Klavier konnte sie auch spielen. Der Flügel war ihr Schatz.«
»Ich denke, du warst ihr größerer Schatz«, sage ich. »Und jetzt ist auf einmal nichts mehr davon da«, sagt Jan. »Ihre Liebe. Ihre Schönheit. Ihr Talent. Alles ist tot.«
Ich zögere, das nächste Foto in die Hand zu nehmen. Fürchte, dass es Jan noch mehr quälen könnte. Doch es ist ein Farbfoto von einem Haus. Ein modernes Haus mit hohen Glasfenstern. Im Hintergrund ist das Meer zu sehen. Hat Jan nicht mal gesagt, ihm würde schwindelig, wenn er Wasser sähe? Seen und Meere?
»Habt ihr da gewohnt? Ist das euer Haus?«
»Ja. Mein Vater hat es gebaut. Ich war zwölf, als wir dort hinzogen. Oben auf der Empore vor den hohen Fenstern stand der Flügel.«
»Ist er darum so oft in Husum? Habt ihr das Haus noch?«
»Ja«, sagt Jan, »er versucht, es zu verkaufen. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum er dauernd hinfährt.«
Ich frage nicht weiter. Ich sehe es Jans Gesicht an, dass er mir von dem anderen Grund noch nichts erzählen wird. Das dritte Foto zeigt einen Jan, den ich kenne. Er und seine Mutter stehen vor dem Haus. Seine Mutter hat eine Hand auf Jans Schulter gelegt. Er ist ein gutes Stück größer als sie.
»Das ist das vorletzte Foto von ihr«, sagt Jan und guckt weg.
Gespannt auf das letzte Foto, nehme ich das vierte Bild. Doch ich sehe nur ein Segelboot. Sein Vater steht auf dem Boot. Er schützt die Augen vor der Sonne. Das Boot heißt Telse .
50
Wir gehen um kurz vor halb zwölf. Die große Kanne voll Kakao ist gerade leer geworden. Die Kanne ist eine der wenigen alten Stücke im Haushalt meiner Großmutter. Blaue Blumen sind darauf.
Das Schneien hat nachgelassen. Nur noch einzelne Flocken schmelzen auf meinen Haaren. Es ist wieder das gewohnte rötliche Blond, das sie haben, wenn sie trocken sind. Meine Kleidung ist es auch. Jan hat mich überreden wollen, Omas warmen Schaffellmantel anzuziehen. Doch wenn Mama den sähe, würde sie alles erraten. Das Geheimnis des Schlüssels soll Oma lüften.
Das Kunstbuch habe ich dabei. Die Fotografien hat Jan wieder an sich genommen. Ich weiß nun ein wenig mehr von seiner Mutter. Und ich weiß, dass wir uns lieben. Wenn wir in den letzten Tagen noch daran gezweifelt haben sollten, dann wissen wir es jetzt.Aber wir haben ja nicht daran gezweifelt. Weder Jan noch ich.
Danke, lieber Gott. Du hast mir jemanden geschickt,
den ich liebe. Ich erinnere mich, dich darum gebeten zu haben.
Ich will auch an den guten Tagen beten.
51
Mama ist schon da. Ich hatte versprochen, vor ihr zu Hause zu sein. Doch es sind noch zehn Minuten bis Mitternacht.
Sie steht auf dem kleinen Balkon vorne, der zu Adrians Zimmer gehört, und tut, als ob sie in den Sternenhimmel guckt.
Es ist immer noch sehr wolkig. Sterne sind keine zu sehen.
Mama bleibt Mama, auch wenn sie innerlich in Aufruhr ist. Sie hat uns fest im Blick, wie wir da auf unser Haus zugehen. Jan und ich. Erst als sie sieht, dass ich gut und sicher angekommen bin, zieht sie sich zurück.
Ich sehe Jan lange nach. Immer wieder dreht er sich um und ich schicke ihm kleine Küsse. Mama wird mit den Hufen scharren oben.
Sie steht in der offenen Wohnungstür. Hat der Tag ihr gutgetan? Ihr Haar, das sie jetzt öfter hochsteckt, hat sich gelöst. Sie sieht erhitzt aus, dabei hat sie doch bis eben in der Kälte gestanden.
»Das ist lieb von Jan, dass er dich gebracht hat«, sagt sie.
»Das war doch so abgemacht«, sage ich.
»Ich habe eben einen Anruf bekommen, der mich irritiert«, sagt Mama, »kaum kam ich zur Tür rein, klingelte das Telefon.«
Oma? Papa und Andreas?
»Hannas Vater war dran und bat, seine Tochter ans Telefon zu holen.«
Auweia. Ich gehe in die Küche und lasse mich auf einen Stuhl plumpsen. Noch im Mantel. Hanna wollte doch spätestens um elf zu Hause sein.
»Was hast
Weitere Kostenlose Bücher