Herzensjunge
Hätte ich eines, könnten wir uns SMS schicken.
Dieses leidige Handythema. Immerhin bin ich nicht mehr allein im Klub der Armen. Hanna hat auch kein neues gekriegt. Zur Strafe.
Tja, und nun sitze ich neben dem Telefon und warte auf Jans Anruf. Ich will Pläne machen für das Wochenende. Ich will seine Stimme hören.
Ob es Papa klar ist, dass er mich mit seinem Handyverbot
zu Hause ans Telefon fesselt? Ich habe Oma mein Leid geklagt, und sie hat schmerzlich gelächelt und gesagt, dass Generationen von Frauen sich ans Telefon gefesselt und auf einen Anruf ihres Liebsten gewartet hätten.
Darum hat man Handys erfunden. Um die Frauen zu befreien.
Oma würde mir eines schenken, doch sie traut sich nicht. Will Papa nicht in seine Pädagogik hineinpfuschen. Das tut sie ja schon ausreichend, indem sie mir den Schlüssel zu ihrer Wohnung überlässt.
Zwischen Hanna und mir herrscht Sendepause. Kein Streit. Nur Sendepause. Wir müssen aufpassen, dass unsere Freundschaft nicht nur aus Pausen besteht.
Doch die Nummer im Mississippi Samstagnacht hat mich ganz schön genervt. Sie hat sich nicht mal entschuldigt, die liebe Hanna.
Ich blättere ein bisschen im Oxford Companion, habe auch über Alfred Tennyson gelesen, doch mein Englisch reicht dafür nicht wirklich aus.
Er scheint mir aber ein ziemlicher Romantiker gewesen zu sein.
In der Deutschstunde beim Hagen genügte es vorgestern schon, dass ich ein paar Originaltitel von Tennysons Gedichten kannte, um zum Shootingstar zu werden. Ich hatte sie auf einem Spickzettel stehen.
Franziska fängt an, sauer auf mich zu werden, denn eigentlich ist sie der Stern in Deutsch. Sie hat so eine tiefschürfende Art, die Hagen gut findet. Schürft immer heftig an allen Seelen herum.
Sie hat Hanna psychologische Hilfe angeboten, wegen
der seelischen Schäden, die Hanna erlitten habe durch das Handy-Filmchen. Ich wüsste keinen, der mehr am Entstehen dieser seelischen Schäden gearbeitet hätte als Franziska. Hanna hat ihr einen Vogel gezeigt.
Jan könnte jetzt wirklich mal anrufen. Es wird schon dunkel und der Tag ist wieder vorbei. Papa ist bei Oma. Mama im Studio. Adrian sitzt in seinem Zimmer und baut die »Kammer des Schreckens« aus Lego.
Keine Ahnung, wo Andreas ist. Lena hat schon zweimal angerufen und jedes Mal bin ich hoffnungsfroh ans Telefon gegangen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, es kriselt bei den beiden. Das würde mir wenigstens das Schwiegerelterntreffen ersparen.
Ich bin grausam in meinem Egoismus. Wäre völlig fertig mit den Nerven, wenn es bei Jan und mir eine Krise gäbe.
Warum ruft er nicht an?
Ich gucke zu Adrian ins Zimmer.
»Was hältst du davon, wenn ich eine Pizza in den Ofen tue?«, frage ich.
»So was haben wir gar nicht«, sagt mein kleiner Bruder.
Und ob wir so was haben. Mama hat eingekauft und Papa hat nicht gemeckert. Sie muss irgendwo ihre Thesen angeschlagen haben.
Reine Frustesserei, diese Pizza.
Immerhin ist sie mit Tomaten und Rucola belegt.
Hört sich wenigstens kalorienarm an.
59
Das ist Andreas, der da kommt. Ich höre es an der Wucht, mit der die Wohnungstür ins Schloss fällt. Das kann nur er.
Ich sitze über Jans Kunstbuch gebeugt.Will doch noch was nachschieben bei Hagen. Und wenn es nur ist, um Franzi zu ärgern. Abgesehen davon lenkt es mich vom Telefon ab.
Das Bild, über das ich mich da beuge, heißt »Ophelia«. Nicht von diesem Waterhouse. Ein John Everett Millais hat es gemalt. Es ist heftig.
Eine offensichtlich ertrunkene Frau schwimmt im Wasser.
Ob das Hagen auch interessiert? Es hat nichts mit Tennyson zu tun, aber ich könnte die ganz abgehobene Nummer abziehen und tun, als sei ich in einem Intellektuellenhaushalt aufgewachsen und läse dauernd »Die Zeit«, die gerade wieder mit Papas Post auf seinem Schreibtisch liegt.
»Ich habe Jan mitgebracht«, ruft Andreas. »Hier riecht es nach Pizza.«
»Ist noch ein Viertel von übrig«, sage ich und stehe schon im Flur.
Jan und ich umarmen uns, als hätten wir gerade den Untergang der Titanic überlebt. Gemeinsam überlebt. Anders als bei Kate Winslet und Leonardo DiCaprio.
»Habt ihr euch vorm Haus getroffen?«, frage ich.
»Ein klares Nein«, sagt mein großer Bruder, »Jan und ich arbeiten immer noch an unserer Freundschaft und ab und zu treffen wir uns.«
»Wo wart ihr?«, frage ich leicht gereizt. »Ich denke, Jan geigt?«
Ist das Eifersucht? Auf meinen eigenen Bruder? Doch schließlich war Papa vor Kurzem auch schon auf mich eifersüchtig.
»Gibt
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