Herzensjunge
Boden des Kanus. »Verschollen im Ärmelkanal«, lese ich.
»Das ist eine Wahre Geschichte ?«, frage ich. »Die ist doch wirklich wahr.«
»Wir haben gedacht, dass es nicht schlecht ist, damit anzufangen«, sagt Mama, »das Foto hat natürlich nur Symbolcharakter.«
»Lebt er denn noch?«, frage ich. Mir kommt gerade eine ganz andere Geschichte in den Sinn, die auf dem Wasser spielt.
»Lies den Text«, sagt Mama und ist schon aus dem Zimmer. Ich wette, dass Papa auch gerade liest. Mama verteilt immer mehrere Exemplare an uns. Nur Adrian bleibt noch davon verschont.
Ich überfliege den Text. Weiß aus Erfahrung, dass es genügt, ein paar Sätze lobend zu zitieren. Da bleibe ich schon am ersten hängen.
»Nie zuvor hat es eine so stürmische See gegeben im Juni.«
Ist der einsame Paddler im Juni unterwegs gewesen? Ich höre Jan, der sagt, dass sein Vater ihm nicht guttue seit einem Tag im Juni.
Ich lese die Geschichte über den Mann, der im Ärmelkanal verloren ging.
Lese auch, dass ihn jemand Tage später in London gesehen haben will.
Der Mann im Ärmelkanal interessiert mich nicht wirklich. Doch dass es am 27. Juni dieses Jahres eine ungewöhnlich raue Nordsee gegeben haben soll, das macht mich neugierig.
Vielleicht ist Jans Vater doch nicht an allem schuld.
Auch wenn ich noch gar nicht weiß, an welchem Tag im Juni es war.
72
»Gibt es das Boot noch?«, frage ich.
Es ist kein guter Tag, darüber zu sprechen. Ich sehe es Jan an.Wie soll es weitergehen mit unserer Liebe, wenn er sich immer wieder verschließt.
Er sitzt am Flügel und starrt auf die Tasten, als staune er, dass es sie in Schwarz und Weiß gibt.
»Es liegt in einer kleinen Werft«, sagt Jan. »Ein Sachverständiger der Kripo hat es sich dort angesehen. Ich nehme an, dass Jens das Boot wieder herrichten wird. Wenn seine Trauer vorbei ist.« Jan klingt bitter.
»Ist nur dieser Baum kaputt?«
Jan schaut auf. »Warum willst du das alles wissen?«, fragt er.
»Weil ich die ganzen dunklen Gedanken aus dir rausreißen will.«
»Indem ich darüber reden soll?«, fragt Jan.
Hat denn bisher keiner mit ihm darüber geredet? Haben sie nur seine Verletzung versorgt? Den Spalt in seinem Kopf zugenäht?
Fragen, die Oma gestellt hat. Sie und ich haben gestern in ihrem Sessel gesessen und uns Gedanken gemacht. Seit zwei Tagen ist sie zu Hause und sie ist noch nicht ganz fit. Jan und ich werden sie erst am Sonntag gemeinsam besuchen.
Ich stehe auf und gehe zu ihm. Lege die Hände auf seine Schultern.
»Was ist los?«, frage ich und fange an, seinen Nacken zu massieren.
»Mein Vater steht ab Montag vor Gericht«, sagt Jan, »wegen fahrlässiger Tötung.« Gibt ihm das eine Genugtuung? Nein. Es hört sich nicht so an.
»Am Dienstag muss ich als Zeuge aussagen.«
»Gegen deinen Vater?«
»Den Ablauf dieses Tages schildern«, sagt Jan.
»War das am 27. Juni?«, frage ich.
Jan greift nach meinen Händen und hält sie fest. »Woher weißt du das?«, fragt er.
»Ich habe zufällig in einer Geschichte gelesen, dass die Nordsee an diesem Tag ungewöhnlich stürmisch war für Juni.«
»Ja«, sagt Jan, »es hatte eine Sturmwarnung gegeben. Doch mein Vater hat sie nicht ernst genommen.«
Wird er das am Dienstag aussagen?
Ich höre meinen großen Bruder sagen, dass er seiner kleinen Schwester was Leichteres wünscht als die Liebe zu Jan.
Ich habe auch noch meine Antwort im Ohr, dass ich mir kaum was Schöneres vorstellen kann, als mit Jan zusammen zu sein.
Hanna hat es auch nicht einfach mit Kalli. Doch das hier ist anders.
Ich bin zu schnell groß geworden. Erst mein Körper. Dann meine Seele.
»Kann er ins Gefängnis kommen?«, frage ich.
Jan lässt meine Hände los und steht auf.
»Jens’Anwalt meint, dass es eine Bewährungsstrafe geben wird«, sagt er.
»Was wünschst du dir?«, frage ich.
Jan seufzt. »Ich weiß es nicht«, sagt er. »Meine Mutter hat nie aufs Meer gewollt. Sie hasste es, zu segeln. Er hat sie unter Druck gesetzt. Das war ein Kampf zwischen beiden, den er gewonnen hat an dem Junitag, an dem sie aufs Boot ging.«
»Ich finde eher, dass er ihn verloren hat«, sage ich.
Jan lächelt. »Ich habe gleich gewusst, dass du ernsthaft bist«, sagt er, »aber dass du so tiefgründig bist, habe ich nicht geahnt.«
Soll das ein Lob sein? Ich weiß es nicht.Weiß nur, dass ich gerade gern was Leichteres hätte.
73
Was ist das für ein Katzengejammer? Hat Ginger sich den Schwanz eingeklemmt? Doch das Gejammer ist hinter
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