Herzensjunge
erste Kerze angezündet. Papa macht es immer spannend. Wir müssen uns alle um den Kranz versammeln. Doch irgendwie ist das auch schön, dass das nicht nur nebenbei geschieht.
Nachher werde ich mit Jan zu Oma gehen. Haselnusstorte essen.
76
Nein. Sie hat Nussecken da und kleine Stücke Apfelkuchen. Ich nehme eines ohne Sahne. Das ist nicht gerade die Sechs-Stunden-Diät, aber noch halbwegs akzeptabel. Oma hat den Tisch sehr adventlich gedeckt, auch wenn sie keinen Kranz mit roten Kerzen hat, sondern vier weiße in einer Schale mit silbernen Kugeln. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie mal im Durcheinander einer Kommune gelebt haben soll.
Jan ist sehr still. Er ist schon zweimal vom Tisch aufgestanden und zur Terrassentür gegangen und hat auf die Alster geguckt. Ich hab auch aufstehen wollen und zu ihm gehen, doch Oma hat mir ein kleines Zeichen gegeben, es nicht zu tun.
»Er hat gestern meine Aussage mit mir absprechen wollen«, sagt Jan und guckt einer Möwe zu, die sich ziemlich weit vorwagt.Vielleicht sucht sie nach Futter auf der Terrasse. Oma legt oft Körner aus.
»Hat dein Vater eine andere Vorstellung von dem, was geschehen ist?«, fragt Oma.
Jan dreht sich um. »Er meint, ich hätte vieles nicht mehr in richtiger Erinnerung«, sagt er, »ich war dann ja auch bewusstlos.«
»Aber doch erst, als dieser Baum schon auf euch gefallen war«, sage ich. Kann es denn sein, dass Jans Vater sich seiner Verantwortung entziehen will?
Jan guckt Oma an. »Was soll ich tun?«, sagt er.
Ich denke daran, dass Oma gern sagt, dass die Wahrheit zu den überschätzten Dingen gehört. Doch das hier ist zu schwerwiegend.
»Die Wahrheit sagen«, sagt Oma dann auch, »die, an die du dich erinnerst.«
»Das wird das Verhältnis meines Vaters zu mir nicht verbessern.«
»Es wird auch nicht besser werden, wenn du das Gefühl hast, manipuliert worden zu sein«, sagt Oma.
Jan setzt sich wieder zu uns an den Tisch und krümelt an seiner Nussecke herum. »Ich kann gar nicht beurteilen, ob er was falsch gemacht hat beim Segeln«, sagt er. »Es war ein hoher Wellengang. Mein Vater sagt, da sei ein Takelagenbruch nicht so selten.«
»Dann sag das«, sagt Oma.
Jan hebt die Schultern. »Er hat den ganzen Umbau des Bootes selbst gemacht«, sagt er, »und sie wollte doch nicht segeln.«
»Mit allen Widersprüchen«, sagt Oma. Ich habe das Gefühl, sie würde Jan gern auf den Schoß nehmen. Es zuckt geradezu in ihr.
Jan guckt mich an. »Er will, dass wir wieder nach Husum ziehen«, sagt er. »Der Umzug sei ein Irrtum gewesen, meint er.«
»Und du willst nicht?«, fragen Oma und ich wie aus einem Mund.
»Nein«, sagt Jan, »ich will nie wieder zurück in dieses Haus.«
Oma zögert. Guckt von Jan zu mir und dann wieder zu Jan.
»Vielleicht kann ich dir helfen«, sagt sie schließlich. Das hat sie schon mal gesagt, als ich bei ihr im Krankenhaus war an ihrem letzten Tag dort.
»Ich habe ein Zimmer frei«, sagt Oma, »ich biete es
dir an, bis dein Vater und du euch einig seid darüber, wie euer Leben weitergehen soll.«
»Das wird er nie zulassen«, sagt Jan.
»Ein Vorschlag, über den wir mit deinem Vater sprechen sollten«, sagt Oma, »nach den Gerichtstagen.«
Jan steht auf und gibt ihr einen Kuss. »Danke«, sagt er.
»Du kennst dich ja schon gut aus bei mir«, sagt Oma.
Das hat Papa auch gesagt.
77
Jan und ich nehmen den langen Weg nach Hause. Gehen an der Alster entlang und kommen an unserer Verlobungsbank vorbei. Ein alter Mann sitzt darauf, sein Hund sitzt davor. Der Hund knurrt leise.
»Ist das eine gute Idee?«, fragt Jan.
»Das Zimmer bei Oma?«
Jan nickt. »Da rücke ich dir doch ganz schön auf die Pelle«, sagt er.
Hatte ich nicht ähnliche Bedenken, als ich Jan von Omas Schlüssel erzählen wollte? Das scheint eine Ewigkeit her zu sein.
»Den Flügel kriegst du da nicht rein«, sage ich.Warum weiche ich einer Antwort auf Jans Frage aus?
»Der Flügel meiner Mutter«, sagt Jan. »Ob er den wohl zurück nach Husum bringt, wenn er hier die Wohnung aufgibt?«
»Steht das denn schon fest?«, frage ich.
Jan schüttelt den Kopf. Er weiß es so wenig wie ich.
Wir biegen in den Mühlenkamp ein.Vielleicht sollten wir ins Balzac gehen.Was Warmes trinken. Dort war ich noch nie mit Jan. Hab ihn ein bisschen aus den Augen verloren, meinen liebsten Coffeeshop.
Ich empfehle Jan, die Karamellmilch zu trinken. Entscheide mich nach einem kleinen Zögern auch dafür. Diese Tage sind kräftezehrend. Hoffentlich
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