Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
stand W. Mertens/Kühn.
Jennifer runzelte die Stirn. Den Namen Kühn las sie zum ersten Mal. Sie blätterte weiter, begutachtete die nächsten Rechnungen und nahm sich noch einmal den Ordner mit den Mietverträgen für die beiden letzten Wohnungen von Mertens vor. Nirgendwo tauchte der Name Kühn auf. Dummerweise hatte sie nur den Nachnamen, aber es war möglicherweise ein Hinweis auf eine Frau im Leben des Arztes. Eine Frau, die mit ihm zusammengelebt hatte.
Die Rechnung war erstaunlich alt, sie stammte aus dem Jahr 1984 und bezog sich auf das Jahr 1983. Eine kurze Prüfung im Mietvertrag bestätigte, dass Mertens die Wohnung im März 1983 angemietet hatte. Noch einmal ging Jennifer das Dokument durch, das mit Schreibmaschine auf bereits vergilbtem Papier verfasst worden war, fand aber keinen Hinweis auf eine Untermieterin. Die zweite Nebenkostenabrechnung führte nur noch Mertens im Adressfeld.
Vielleicht nur ein Versehen. Auch wenn sie sich keine großen Hoffnungen machte, dass Lohaus der Name etwas sagte, rief sie den Betreuer an. Er hatte den Namen Kühn im Zusammenhang mit Mertens aber wie erwartet noch nie gehört. Blieben noch die ehemalige Angestellte, die ebenfalls seit 1983 in Mertens’ Wiesbadener Praxis gearbeitet hatte, und der Vermieter.
1983 schien ein Jahr der Veränderung für Mertens gewesen zu sein. Es war das Jahr, bis zu dem die Praxisunterlagen zurückreichten. Jennifer verspürte ein leichtes Kribbeln im Nacken. Möglicherweise war sie auf der richtigen Fährte.
Sie notierte sich alle Daten auf einem Block und wollte Freya schon bitten, die Angestellte und den Vermieter ausfindig zu machen. Dann kam ihr jedoch plötzlich ein neuer Gedanke, und sie hielt inne.
Bisher hatte sie keinen einzigen Schnipsel Papier in Händen gehalten, der weiter in die Vergangenheit zurückreichte als bis 1983. Wie es schien, hatte Mertens sein Leben davor mehr oder minder ausradiert.
Was würdest du tun, wenn du ein neues Leben anfangen wollen würdest?, fragte sich Jennifer.
Sie schob die Aktenordner beiseite und zog das Notebook zu sich heran. Zuerst gab sie den Namen Wilfried Kühn in die Suchmaske des polizeiinternen Systems ein, landete aber keinen Treffer. Falls etwas in den Systemen zu finden sein sollte, war es vermutlich zu alt, um bei einer so einfachen Suche sofort gelistet zu werden.
Dann öffnete Jennifer erneut den Internetbrowser und gab den Namen bei Google ein. Es kamen zu viele Treffer. Erst als sie den Namen mit den Stichworten Neurologie und Psychiatrie verband, erzielte sie ein Suchergebnis. Es waren nicht viele Informationen, doch sie reichten aus, um ihr einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen.
Sie hatte das Tor zu Wilfried Mertens’ dunkler Vergangenheit aufgestoßen.
Zu Hannahs Überraschung erschien nicht Tobias an der Tür, sondern seine Schwester Selina. Mit versteinertem Blick musterte sie die Sechzehnjährige mehrere Sekunden lang. »Ich sollte dich um deinetwillen zum Teufel jagen«, murmelte sie kaum hörbar, bevor sie zurücktrat und Hannah einließ.
»Tobi ist nicht da, er ist noch mal losgefahren, um irgendwas zu besorgen. Meinte, du sollst auf ihn warten, würde nicht allzu lange dauern.« Selina ließ sich wieder auf dem Sofa vor dem Fernseher nieder, wo sie wohl auch schon gesessen hatte, als sie durch Hannahs Klingeln gestört worden war. Es lief irgendeine Serie, die sie aber nicht sonderlich interessiert zu verfolgen schien. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Nägel zu lackieren.
Hannah zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Dann blieb sie unschlüssig im Wohnzimmer stehen und sah zu, wie die Serie in einen Werbeblock überging.
»Du kannst ruhig schon in sein Zimmer hochgehen«, sagte Selina, ohne aufzublicken. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass das keinesfalls als Vorschlag zu verstehen war. Sie wollte den Besuch ihres Bruders loswerden.
»Warum bist du so abweisend zu mir?«, fragte Hannah und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Ihr war die Frage einfach so herausgerutscht. »Ich meine …«
»Ich bin nicht abweisend zu dir«, berichtigte die junge Frau mit einem unterschwellig aggressiven Tonfall, der in krassem Gegensatz zu ihren Worten stand. »Es wäre nur einfach besser, wenn du dich von meinem Bruder fernhalten würdest. Für dich. Für mich. Für ihn. Für uns alle.«
»Weshalb?« Hannah fand die Art, wie sich Selina ihr gegenüber verhielt, ziemlich unverschämt. Sie
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