Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
sie irgendeinen konkreten Verdächtigen hatten.
»Was ist los, Jennifer?«, fragte Oliver schließlich.
Sie antwortete nicht sofort. »Ich denke, dass wir die Sache falsch angehen. Dass wir möglicherweise die ganze Zeit falschen Spuren nachgejagt sind.«
»Wie meinst du das?«
»Bisher sind wir davon ausgegangen, dass wir jemanden suchen, der in Larissa verliebt war. Ich denke, diese Annahme könnte komplett falsch sein.«
»Weil er sich ihrer Sachen entledigt hat?«, mutmaßte der Staatsanwalt.
Jennifer nickte. »Wenn er krankhaft in sie verliebt gewesen wäre, hätte er ihre Sachen nicht entsorgt, jedenfalls nicht auf diese Art und Weise. Zumindest nicht die Kleidung, die Larissa am Körper getragen hat. Er hätte den Gedanken niemals ertragen können, dass irgendeine andere Frau ihre Sachen anzieht. Vielleicht hätte er die Kleidung vernichtet, aber er hätte sie doch nicht irgendwelchen Typen unter einer Autobahnbrücke überlassen.«
»Nehmen wir einmal an, dass du recht hast. Was schließt du dann daraus?«
Jennifer zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich bekomme einfach kein Gefühl für diesen Kerl, Oliver. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht darin, uns in die Täter hineinzuversetzen, zu versuchen, ihre Beweggründe nachzuvollziehen und zu verstehen. In den meisten Fällen führt das früher oder später zum Erfolg. Jetzt habe ich aber den Eindruck, dass wir uns die ganze Zeit im Kreis drehen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, nach wem wir eigentlich suchen.«
Oliver nickte. »Wenn er nicht in sie verliebt war, was ist es dann?«
Die Kommissarin zögerte einen Moment, bevor sie sagte: »Vielleicht ging es ihm gar nicht um Larissa. Ich meine um Larissa als Person. Vielleicht stellt sie einfach nur ein Symbol dar. Möglicherweise ging es ihm nicht um die Liebe seines Lebens, sondern um etwas ganz anderes. Die Sache mit dem Herz … Es passt irgendwie alles nicht zusammen.« Jennifer drehte Oliver den Kopf zu und sah ihn zum ersten Mal an. »Was, wenn er sie lediglich als Opfer ausgewählt hat, weil sie gerade erst geheiratet hatte? Wenn er sie überhaupt nicht kannte, außer aus der Zeitung? Wenn sie allein deshalb sein Opfer wurde, weil sie ihre Liebe öffentlich zelebrierte?«
»Möglich«, räumte Oliver zögernd ein. »Aber ehrlich gesagt würde ich das nur äußerst ungern in Erwägung ziehen. Denn du weißt, was das im Zweifelsfall bedeuten würde, oder?«
Jennifer nickte. »Im Zweifelsfall noch mehr Leichen. Aber ich denke, es ist an der Zeit, auch diese Eventualität in Betracht zu ziehen.«
Der Staatsanwalt stieß ein leises Seufzen aus. »Bevor wir uns detaillierter damit auseinandersetzen, möchte ich eine Expertenmeinung einholen.«
»Das wollte ich dir ohnehin vorschlagen.«
Oliver zögerte noch einen Moment, dann fragte er: »Rufst du Doktor Rabe an?«
Jennifers Mundwinkel verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. »Habe ich schon. Wir haben direkt Montagmorgen einen Termin.«
Als sich Hannah am späten Freitagnachmittag von Aileen verabschiedete, war sie bester Laune. Sie hatte ihre ersten drei Tage an der neuen Schule mehr oder weniger erfolgreich hinter sich gebracht und das Gefühl, eine neue Freundin gefunden zu haben. Oder zumindest eine mögliche neue Freundin.
Sie hatte Aileen im Leistungskurs Politik und Wirtschaft kennengelernt. Es standen Hausarbeiten an, und Aileen war die Einzige gewesen, die noch ohne Partner gewesen war. Was offensichtlich Gründe hatte.
Aileen war auf den ersten Blick anzusehen, dass sie anders war als die anderen Jugendlichen. Sie kleidete sich ganz in schwarz, ihre Füße steckten in hochhackigen Stiefeln, sie trug Netzhandschuhe, und ein Ring mit einem dunkelroten Stein schmückte ihre linke Hand. Ihre Haare waren schwarz gefärbt, allerdings mit dunkelroten Strähnen durchsetzt, und hingen ihr so weit ins Gesicht, dass sie es fast vollständig verbargen. Die eng geschnittene, mit Spitze besetzte Bluse, die sie an Hannahs erstem Tag in der Schule trug, hatte einigermaßen zu ihrer restlichen Erscheinung gepasst, ganz im Gegensatz zu der viel zu weiten Cargo-Hose.
Als Hannah sie gefragt hatte, ob sie eine Arbeitsgruppe mit ihr bilden wolle, hatte Aileen zum ersten Mal den Blick gehoben. Ihre Augen hatten die Farbe von Eis und hatten sich voller Ablehnung und Feindseligkeit direkt in die Augen ihres Gegenübers gebohrt.
Hannah neigte nicht dazu, in Schablonen zu denken, dennoch hatte es sie ein wenig
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