Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
vollständig eingestürzten Betonwand Position bezogen hatten. Von dort aus war vermutlich auch der Zugang zu den Überresten des Industriegebäudes möglich, dessen Umrisse sich dank der Beleuchtung im Innern deutlich aus der Dunkelheit hervorhoben.
Als die Beamten auf Jennifer aufmerksam wurden, verstummten ihre Gespräche sofort. Neugierig musterten sie die Kommissarin, während sie sich über die letzten Meter plattgetretenen Schnees kämpfte.
Der leitende Ermittler machte schließlich einen Schritt auf sie zu. Er stellte sich als Kriminalhauptkommissar Achim Freytag vor und begrüßte sie knapp, auf jegliche Floskeln verzichtend. In der nächsten halben Minute schüttelte Jennifer alle möglichen Hände und versuchte sich die Namen der wichtigsten Akteure einzuprägen. Kriminalpolizei, Spurensicherung, Rechtsmediziner und Staatsanwalt.
Anschließend wandte sie sich direkt an Kommissar Freytag. Er war ein großer, breitschultriger Mann um die fünfzig. Die Lichtverhältnisse ließen kaum Mimik erkennen.
»Warum haben Sie uns angerufen?« Die Frage war so simpel wie unnötig. Jennifer ahnte längst, weshalb sich die Kollegen wegen eines Leichenfundes im Hanauer Hafen bei ihnen gemeldet hatten: weil er möglicherweise im Zusammenhang mit ihrem ungelösten Mordfall stand.
Der leitende Beamte deutete auf den Durchgang in den Mauerresten neben ihnen. »Sehen Sie es sich selbst an.«
Von ihm gefolgt betrat Jennifer daraufhin die Ruine. Von dem ehemaligen Industriegebäude war nicht mehr allzu viel übrig. Ein großer Teil des Daches fehlte, die wenigen noch vorhandenen Wände waren mit Graffiti verunstaltet, und verrostete Metallstreben ragten aus dem Beton. Überall lagen Müll und benutzte Spritzen herum. Der Geruch von Alkohol und Urin lag unverkennbar in der Luft. Wie viele verlassene Gebäude war auch dieses hier Heimstätte von Obdachlosen und Drogenabhängigen geworden.
Am anderen Ende, wo die Mauern noch einigermaßen intakt waren und einen akzeptablen Schutz vor Wind und Wetter boten, saß inmitten der aufgestellten Flutlichter eine mit einem Tuch bedeckte Gestalt. Sie lehnte an den Überresten einer zusammengestürzten Treppe, inmitten von Glasscherben und Stofffetzen. In einem Radius von gut zwei Metern war sie von getrockneten Blutspritzern und Flecken umgeben.
Jennifer blieb stehen und ließ den Anblick einen Moment lang auf sich wirken. Mit einer Geste in Richtung Leiche fragte sie: »Darf ich?«
Achim Freytag nickte. »Sicher. Die Spurensicherung ist schon durch. Wir haben mit dem Abtransport der Leiche nur auf Sie gewartet. Anordnung seitens Ihres Staatsanwalts.«
Jennifer legte die letzten Meter trotzdem vorsichtig zurück, darauf bedacht, weder in das Blut noch in die Glasscherben zu treten. Nachdem sie Handschuhe übergezogen hatte, zog sie das Laken zur Seite.
Ihr Blick fiel sofort auf das Loch im Brustkorb, das freie Sicht auf zerfetztes Gewebe und gebrochene Rippen gewährte. Das Herz fehlte.
»Scheiße«, fluchte Jennifer.
»Jetzt wissen Sie, warum wir Sie angerufen haben«, sagte der Hanauer Kommissar neben ihr ruhig.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch, bevor sie sich erneut dem Anblick stellte. Sie lenkte ihre Konzentration fort von der klaffenden Wunde, die aussah, als hätte jemand einfach in die Brust des Mannes gegriffen und das Leben mit einer einzigen Bewegung aus ihm herausgerissen.
Die Haltung des Toten wirkte unnatürlich. Er starrte sie aus gebrochenen Augen an, zähnefletschend, einen Ausdruck im Gesicht, der ihm eher das Aussehen eines rasenden Tieres als das eines toten Menschen verlieh. Er war nackt. Sein ganzer Körper war mit beschriebenen Zetteln in Notizblockgröße bedeckt, die verwendeten Pinnnadeln hatten sich tief in sein Fleisch gebohrt.
Trotz der vielen Zettel fielen Jennifer sofort die Einstiche ins Auge. Auf den Mann war unzählige Male mit einem Messer oder einem ähnlich scharfen Gegenstand eingestochen worden. Allerdings erst nach seinem Tod.
Die Kommissarin trat einen Schritt zurück und ließ ihren Blick über den Boden wandern.
Die Anordnung der Blutspritzer kam ihr merkwürdig vor. Man brauchte kein Experte zu sein, um zu erkennen, dass das Muster nicht zur Fundsituation passte. Das Blut, falls es denn überhaupt echtes Blut war, war nachträglich verspritzt worden, um den Anschein eines Angriffs vor Ort zu erwecken. Der Mann war allerdings nicht hier gestorben.
Jennifer deckte den Toten wieder zu. Dann sah sie Achim Freytag an.
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