Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
verwirrt, dass sie Aileen nicht irgendeiner Gruppierung zuordnen konnte, wie sie es von Jugendlichen in ihrem Alter gewöhnt war. Ihre Mitschülerin gehörte augenscheinlich weder zur Heavy-Metal-Fraktion noch zu den sogenannten Emos. Wahrscheinlich war sie Mitglied irgendeiner Subkultur der Gothic-Szene.
Oder sie war einfach nur Aileen.
Dieser Gedanke gefiel Hannah am besten. Inzwischen betrachtete sie das sonderbare Mädchen einfach als Individualistin.
Aileen hatte sich Hannah gegenüber zuerst extrem ablehnend verhalten, doch dank ihrer Hartnäckigkeit war es Hannah schließlich gelungen, ihre Mitschülerin zur Zusammenarbeit zu bewegen. Sie war sogar ein klein wenig aufgetaut, auch wenn sie darauf bedacht schien, möglichst wenig über sich preiszugeben.
Als Hannah vorgeschlagen hatte, sich am Samstag zu treffen, um gemeinsam an dem Referat zu arbeiten, hatte Aileen äußerst zögerlich reagiert. Sie hatte erst zugestimmt, als Hannah sie direkt zu sich nach Hause eingeladen hatte, weshalb Hannah inzwischen vermutete, dass Aileens Verhältnis zu ihren Eltern nicht das beste war.
Irgendwie hatte Hannah das Gefühl, Aileen bereits zu mögen. Sie mochte sonderbar und in sich gekehrt sein, doch zumindest machte sie einen ehrlichen Eindruck und schien keinesfalls so oberflächlich und affektiert zu sein wie die meisten anderen Mädchen in ihrem Alter.
Eben das genaue Gegenteil der drei Schülerinnen, die Hannah jetzt auf dem Weg zur Bushaltestelle in den Weg traten und ihr die gute Laune verdarben.
Sie waren ihr bereits in der Mensa aufgefallen. Sie hatten in der Mittagspause am Nebentisch gesessen und lebhaft über den neuesten Promiklatsch diskutiert, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt gewesen waren, sie und Aileen kritisch zu mustern und wenig unauffällig über sie zu tuscheln.
Hannah konnte sich denken, was sie von ihr wollten: sie darauf hinweisen, dass sie auf dem besten Weg war, sich zu blamieren und im gesellschaftlichen Gefüge ihrer neuen Schule ziemlich tief zu fallen. Hannah hatte früher an ihrer alten Schule selbst zu diesen »elitären« Kreisen gehört und kannte die Spielregeln.
Unbewusst verschränkte sie die Arme vor der Brust, als sie stehenblieb und den Blicken der drei durchgestylten Mädchen begegnete.
Die Blondine in der Mitte kam sofort zur Sache. »Wir haben dich heute mit Aileen gesehen. Ihr arbeitet zusammen?«
Am liebsten hätte Hannah auf diese dämliche Frage gar nicht geantwortet, weshalb sie recht einsilbig blieb. »Sieht so aus.«
»Für uns sah es eher so aus, als würdest du mit ihr anbandeln«, bemerkte die Blonde.
Hannah vermisste den sonst üblichen hochnäsigen Tonfall. Offenbar wollten sie ihre Warnung höflich verpackt rüberbringen. »Und wenn schon.«
»Das ist keine gute Idee. Aileen ist kein guter Umgang.«
Ihre Worte bestätigten Hannahs Vermutung, der Tonfall passte jedoch überhaupt nicht. Sie musterte die drei Mädchen skeptisch und sah der Blonden in die Augen. Irgendetwas stimmte nicht, lief nicht nach den gewohnten Regeln. »Weshalb?«
»Du solltest etwas über sie wissen«, sagte das Mädchen schon beinahe zögerlich. »Aileen ist gefährlich.«
»Gefährlich?«, wiederholte Hannah irritiert, denn mit dieser Aussage hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Aileen mochte anders sein, unangepasst, vielleicht auch sonderbar, aber gefährlich ? »Wie kommt ihr denn darauf?«
Ein Auto hielt am Straßenrand, das offenbar gekommen war, um die Clique einzusammeln. »Das ist nur ein gut gemeinter Rat«, sagte die Blonde ernst. »Halte dich lieber von Aileen fern. Sie ist Mitglied in einer Sekte.«
Dann stiegen die drei in den Wagen und fuhren davon.
8
Jennifer hielt vor der Absperrung und streckte dem wachhabenden Polizisten ihren Ausweis entgegen. Er warf einen kurzen Blick darauf, dann winkte er sie durch. Obwohl das abgesperrte Areal recht groß war, gab er ihr keine weiteren Anweisungen. Sie ließ ihr Auto über den holprigen Kiesweg rollen und parkte schließlich auf dem Hof eines heruntergekommenen, halb verfallenen Gebäudes.
Sie ließ sich noch ein paar Sekunden Zeit und lauschte dem leisen Singsang aus dem Radio, bevor sie den Zündschlüssel zog und ausstieg. Die Temperaturen waren erneut unter null Grad gefallen, doch wenigstens schneite es nicht mehr.
Kurz nach sechs Uhr, Samstagmorgen. Der Fund war irgendwann zwischen ein und zwei Uhr in der Nacht gemeldet worden.
Jennifer näherte sich den sechs Männern, die vor einer beinahe
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