Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
in die Nähe der Glühbirne schwebten. Roxy geriet in ein Gefühlschaos, in dem sie sich nicht mehr zurechtfand. Furcht, Hoffnung, Abscheu – alles ging durcheinander. Sogar Dankbarkeit war dabei. Ja, sie war Dagan definitiv dankbar. Er hatte ihr das Leben gerettet. Würde er eine Gegenleistung von ihr erwarten?
„Niemand tut etwas, ohne etwas dafür zu verlangen“, dachte sie laut. Was war es in ihrem Fall? Ihre Seele? Aber wenn er die gewollt hätte, hätte er sie sich längst nehmen können. Warum machte er sich dann die Mühe, freundlich zu ihr zu sein? Plötzlich überfiel Roxy die Erkenntnis. Was sie miterlebt hatte, war unwirklich, unnatürlich. Was Dagan getan hatte, war nicht die Tat eines gewöhnlichen Menschen. Mühsam brachte sie dann die Frage hervor: „Bist du … ein normaler Sterblicher?“
Er wandte sich ihr zu und musterte sie aufmerksam. „Nein.“
Sie wusste, dass es falsch war, die Frage zu stellen. Sie wollte es gar nicht so genau wissen. Trotzdem fragte sie: „Was bist du dann?“
Er lachte. Es war ein wohltönendes dunkles Lachen. „Etwas anderes.“
3. KAPITEL
Oh Isis, möge dein Blut sich offenbaren,
oh Isis, möge deine Kraft sich offenbaren,
oh Isis, möge deine magische Gewalt sich offenbaren.
Nach dem Ägyptischen Totenbuch
Amarillo, Texas. Gegenwart
V iel war durch den schma len Spalt der Gar di ne, durch den das Mondlicht in das Zimmer fiel, nicht zu erkennen. Ein braun und dunkelrot gemusterter Teppichboden, Tapeten in denselben Farbtönen, eine niedrige Zimmerdecke.
Roxy Tam war vor dem Zimmer Nummer 9 des Motels stehen geblieben. Sie warf einen prüfenden Blick über die Schulter auf den verlassenen Parkplatz des Tee Pee Inn. Hätte jemand sie so gesehen, hätte er sie für eine ganz normale Nutte gehalten.
Das zu üppig aufgetragene Make-up, die übertrieben geschminkten Augen und ihr superkurzer Minirock, der gerade das Nötigste bedeckte, schienen diesen Eindruck zu bestätigen. Das Haar trug sie offen. Die dunklen Locken fielen ihr bis auf die Schultern. Roxy hatte sich bewusst für diese Aufmachung entschieden, die ganz und gar nicht ihrem Stil entsprach. Man musste sich eben der Umgebung anpassen, wollte man nicht unnötig auffallen.
Am anderen Ende des Parkplatzes blinkte einsam eine kaputte gelbe Neonreklame mit dem Namen des Motels und dem angesichts des leeren Parkplatzes überflüssigen Hinweis darauf, dass noch Zimmer frei waren. Für zehn Dollar die Nacht. Preis wert.
Noch einmal überprüfte Roxy die Umgebung. Nichts rührte sich, nicht einmal die Blätter der Büsche bewegten sich.
Sie betrat das Zimmer Nummer 9 und zog die Tür leise hinter sich zu. Drinnen roch es nach abgestandenem Zigarettenrauch und Lavendel-Raumspray, unterlegt von einer dezenten Urinnote. Die Toilettentür stand offen, und Roxy hätte wetten können, dass Frank Marin sich nicht die Mühe gemacht hatte, abzuziehen.
Das Aroma ließ sie schaudern. Erinnerungen stiegen in ihr auf. Heruntergekommene Motels waren in ihren ersten Lebensjahren ihr Zuhause gewesen. Es waren so viele gewesen, dass sie sie nicht mehr zählen konnte.
Neben dem Fenster stand eine Frisierkommode. Ein Doppelbett war an die Wand geschoben worden, daneben ein Nachttisch mit einer Lampe, die keinen Schirm mehr hatte. Auf dem Bett war unter einer fadenscheinigen Decke ein Wulst. Aus der Richtung kam ein lautes Schnarchen. Keine Spur von dem Kind.
Verdammte Scheiße.
Roxy ging auf leisen Sohlen zum Bett und drückte Frank Marin mit sicherem Griff die Kehle zu, gerade fest genug, um ihm die Luft zu nehmen. Marin schlug verwundert die Augen auf und versuchte, nach Luft zu schnappen. Im nächsten Moment griff er nach Roxys Handgelenk, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Bei seiner Berührung spürte sie in sich etwas wie ein schwaches Summen, eine Art psychischen Kontakt, die ihr verriet, dass Frank eine Spur von übernatürlicher Kraft in den Adern hatte. Zu gern hätte sie gewusst, ob er selbst etwas von dieser Veranlagung ahnte.
„Wo ist das Kind, du Drecksack?“, fragte sie ihn.
Er krächzte etwas und versuchte immer noch, ihre Hand wegzureißen, aber Roxy hatte ihn fest und sicher im Griff. Sie nahm es mit jedem Sterblichen auf. Ihre außergewöhnliche Kraft war eine willkommene Nebenwirkung der Begegnung mit dem Seelensammler vor vielen Jahren im Kellersgewölbe einer verlassenen Fabrik in Chicago. Kurz lockerteRoxy etwas den Griff, damit er sprechen konnte.
„Welches Kind?“, fragte
Weitere Kostenlose Bücher