Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
verziert mit Flügeln und Hörnern. Dasselbe Zeichen trug sie als Anhänger an ihrer Kette.
Es war keine Tätowierung. Das Zeichen war zwar in die Haut gestochen worden, aber es war eine lange, schmerzvolle Prozedur gewesen. Roxy hatte die Formen Stück für Stück herausgearbeitet, die Haut verheilen lassen, weiter daran gearbeitet, die Verletzungen wieder ausheilen lassen und so fort, bis das dunkle Mal fertig gewesen war.
Das geflügelte, gehörnte Ankh war das Zeichen, das alle Isistöchter trugen, eine Gattung von Unsterblichen, die unterden Sterblichen wandelten, sie schützten und leiteten, die übrige Zeit aber damit zu tun hatten, sich zu verteidigen. Befand sich das Zeichen wie bei Roxy wie ein Brandmal auf dem Unterarm, wusste der Eingeweihte, dass sie zur Isisgarde gehörte.
Frank Marin gehörte ganz sicher nicht zu den Eingeweihten.
„Hast du dieses Zeichen schon einmal irgendwo gesehen?“, fuhr Roxy ihn an. „Vielleicht auf dem Kopf stehend und als schwarzes Tattoo auf der Brust eines Mannes?“ Für ihre Nachforschungen war es ihr einziger Anhaltspunkt. Roxy wusste, dass nicht viel Zeit blieb, um die Informationen zu beschaffen. In der Unterwelt ging bereits das Gerücht um, dass einige den toten Reaper wieder zum Leben erwecken wollten. Das würde ein gewaltiges Fass aufmachen. Die Folgen wären unabsehbar.
In der Unterwelt wachte jeder eifersüchtig darüber, dass er sein Stück vom Kuchen abbekam, Osiris, Hades, Pluto, Sutekh und wie sie alle hießen. Dazu kam die ganze Korona untergeordneter Götter, Halbgötter und Dämonen, die nahezu jede Religion bevölkerten. Zwischen ihnen war das Reich der Unterwelt fein säuberlich aufgeteilt, vergleichbar den streng abgesteckten Einflusssphären, die die Syndikate in den Städten der Oberwelt hatten.
Aber die Bündnisse waren zwischen den einen genauso brüchig wie zwischen den anderen. Denn die jeweiligen Paten der Unterwelt waren genauso unberechenbar und cholerisch wie ihre Kollegen oben. Ein Hauch genügte, um das empfindliche Gleichgewicht zu stören und einen sechstausendjährigen Waffenstillstand abrupt zu beenden. Und was letzte Woche geschehen war, war mehr als ein Hauch gewesen.
Jemand hatte einen Reaper getötet, regelrecht abgeschlachtet. In der Oberwelt schien sich jeder Hanswurst bemüßigt zu fühlen, Spekulationen darüber anzustellen, wer oder was dahintersteckte. Roxy war sicher, dass die Gerüchteküche in der Unterwelt erst recht brodelte. Gewissheit hätte sie sich darüber nur verschaffen können, indem sie sich dort umhörte. Aber der einzige Zugang zur Unterwelt war der Tod. Selbst den mächtigen Göttern und Halbgöttern war der umgekehrte Weg verwehrt. Es gab nur wenige – zu denen Roxy nicht gehörte –, die die Grenze zwischen beiden Welten passieren konnten. Das waren die Seelensammler, und das war nicht zuletzt der Grund dafür, dass an der ganzen Geschichte mit dem toten Reaper etwas nicht stimmen konnte.
„Ich verstehe das nicht“, hatte Roxy am vergangenen Abend zu ihrer Mentorin gesagt und sich darüber gewun-dert, dass Calliope der offensichtliche Widerspruch nicht aufgefallen war. „Wenn der Reaper tot ist, ist er jetzt in der Unterwelt. Warum fragt Sutekh ihn nicht einfach, wer seine Mörder sind?“
„Der Reaper ist zwar tot, aber er ist offenbar nicht in der Unterwelt angekommen. Wir haben alle befragt, die etwas darüber wissen könnten. Aber niemand weiß, wo er steckt. Er ist ohne Zweifel ermordet worden, aber er ist weder unter den Lebenden noch unter den Toten. Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst.“
„Wie soll das möglich sein?“ Roxy hatte das Ganze höchst beunruhigend ge funden.
Calliope hatte nur den Kopf geschüttelt. „Das wüsste ich selbst gern. Aber Licht in die Sache zu bringen, ist jetzt deine Aufgabe. Finde heraus, wer für seinen Tod verantwortlich ist! Und schnell. Wenn einer von Sutekhs Vasallen oder Verbündeten die sterblichen Überreste findet, werden sie ihn wieder zum Leben erwecken. Das müssen wir jedenfalls befürchten. Und was das für uns bedeuten würde, kannst du dir sicher ausmalen.“
Sie hatte sofort verstanden. Die Isisgarde musste den toten Seelensammler finden. Roxy wusste, dass sich Sutekh und sein Gefolge auf alle Tricks der schwarzen Magie verstanden und in der Lage waren, auch einen zerstückelten Körper wieder ganz und lebendig zu machen. Klar war auch, dass ein wieder zum Leben erweckter Reaper sofort mit dem Finger auf diejenigen zeigen
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