Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
nichts. Keine Menschenseele außer dem Dreckstück hinter einem der dunklen Fenster, das sie vielleicht doch hätte töten sollen.
Irgendetwas musste da aber noch sein. Auch wenn ein gewisses Maß an Verfolgungswahn in den letzten Jahren zu ihrer zweiten Natur geworden war, wusste Roxy, dass sie sich auf ihr Gefühl verlassen konnte. Irgendetwas war da, das imstande war, sich perfekt zu tarnen. Wie auch immer, jetzt war es höchste Zeit zu verschwinden.
Roxy fuhr vom Parkplatz und schlug den Weg zum Highway ein. Gleichzeitig schob sie eine CD ins Radio. „Route 66“ – passend, auch wenn es in ihrem Fall nicht die Route 66 war, sondern die I-40 Richtung Osten.
Noch vier Stunden, und dann würde sie wieder allein auf der Pirsch sein. Dann ginge es nach Hause, nach Toronto. Roxy versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Viel Brauchbares war an Marins Information nicht gewesen. Nur dass die Setnakhts im Spiel waren, die sich dummerweise auch ausgerechnet in Toronto heimisch fühlten. Und dann war noch der Name Krayl gefallen.
Sie konnte sich einer dunklen Vorahnung, die ihr Bauchschmerzen bereitete, nicht erwehren. Dagan Krayl hatte sie in jenem Fabrikkeller zurückgelassen. Er hatte sie ungeschoren davonkommen lassen, aber sie eindringlich gewarnt, sich nicht auf die Seite seiner Feinde zu schlagen und sich insbesondere von den Isistöchtern fernzuhalten. Und was hatte sie getan? Genau das Gegenteil. Sie hatte sich den Isistöchtern angeschlossen, und es war, als hätte er selbst die Weichen dazu gestellt. Er hatte in ihr Leben eingegriffen, ihm eine neue Richtung gegeben, aber ihr leider nicht verraten, wie sie dieses neue Leben meistern sollte.
Ohne Frage war sie ihm etwas schuldig. Und wenn er doch nicht der Reaper war, den sie umgebracht hatten, war sie entschlossen, diese Rechnung zu begleichen.
6. KAPITEL
Es wird ein großer Tag sein auf Erden
wenn meine Feinde alle gestürzt sind.
Im Antlitz der Götter vernichte ich sie.
Nach dem Ägyptischen Totenbuch
St. Louis, Missouri
A lastor griff nach der Schachtel mit den Fotos und zog sich damit in eine dunkle Ecke zurück. Dagan warf ihm einen fragenden Blick zu, aber sein Bruder zuckte nur die Schultern und begann, die Bilder durchzusehen.
Dagan hatte keine Ahnung, was Alastor vorhatte, aber jetzt war nicht die Zeit, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Er heftete den Blick auf die Tür und wartete auf das Erscheinen seiner Beute.
Sie entpuppte sich als ein Mann mittlerer Größe mit scharf geschnittenen Zügen. Gepflegt gekleidet, mausbraunes, zur Seite gekämmtes Haar. Ein Mann, an dem man auf der Straße vorbeigehen würde, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Ein Wolf im Schafspelz, nach außen hin ein durchschnittlicher Spießer, im Innern eine Bestie. Wie geschaffen für Dagan.
Sie sahen einander eine Weile schweigend an. Nur ein kurzes Zucken im Gesicht verriet den Unwillen des Killers.
„Hallo, Joe“, begrüßte Dagan ihn freundlich.
„Sie kennen meinen Namen? Da haben Sie mir etwas voraus.“
Dagan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Sie haben keine Ahnung, was ich Ihnen voraushabe.“
Der Angesprochene blieb äußerlich unbeeindruckt, aber Dagan kaufte ihm die Gelassenheit nicht ab. Er konnte praktisch in ihn hineinsehen. Und was er da erblickte, war alles andere als die Coolness, die er zur Schau trug.
„Na? Wird wohl wieder Zeit, das Backpulver zu wechseln, was?“, spottete Dagan.
Der Mann warf einen schnellen Blick auf den Kühlschrank. „Sie haben hoffentlich nichts angefasst?“ Seine Anspannung wuchs spürbar. Dass sich jemand anderes an seiner Sammlung zu schaffen machen könnte, bereitete ihm offensichtlich großes Unbehagen.
„Aber ja. Bei den ganzen so liebevoll verpackten Paketen kann man doch nicht widerstehen. Man muss sie einfach alle auspacken. Ist ja fast so wie Weihnachten. Willst du nicht mal nachsehen?“
„Das sehe ich früh genug, wenn ich Ihre Einzelteile dort einfriere.“ Sein schiefes Lächeln entblößte zwei Reihen kleiner weißer Zähne, die fast aussahen wie die Milchzähne eines Kindes. „Ich habe ja lieber mit Frauen zu tun und arbeite auch lieber mit dem Messer. Aber es geht nun mal nicht anders.“ Er zückte eine Glock, eine schwere Neunmillimeter-pistole, und zielte auf Dagans Kopf. „Was sind Sie, he? Bulle? Privatschnüffler? Bundespolizei?“
Ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen, bemerkte Dagan, dass sich Alastor im selben Augenblick lautlos aus dem Schatten gelöst hatte,
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