Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
sich vergewissern wollten, dass der tote Seelensammler nicht wieder zum Leben erweckt wurde. Ob es wirklich so klug war, die Kleine ihrer liebevollen, aber auch reichlich verwirrten Mutter zu überlassen, war noch die Frage. Nichts war gewonnen, wenn es nun samt seiner Mutter einer noch größeren Gefahr ausgesetzt war. Wenigstenswar Roxy weitsichtig genug gewesen, Calliope zu bitten, die beiden an einen sicheren Ort zu bringen. Und das war so gut wie eine Lebensversicherung, denn Calliope verstand sich auf solche Manöver wie keine andere.
Roxy stöhnte leise auf, als sie mit einer unbedachten Bewegung das Gewicht auf den verletzten Fuß verlagerte. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie dieser Knöchel aussah. Wahrscheinlich war er schwarz verkohlt. Außerdem wurmte es sie, dass sie immer noch nicht im Bilde war, was hier vor sich ging. Ärgerlich meinte sie zu Naamah: „Du hättest Marin einfach selbst fragen können. Dann bräuchtest du mir jetzt nicht auf die Nerven zu gehen.“
Xaphans Feuerbraut winkte ungeduldig ab. „Da gab es nicht mehr viel zu fragen. Marin war tot, als ich zu ihm gekommen bin.“
Roxy erschrak, als sie das hörte. Unwillkürlich richtete sie den Blick auf Dagan, der das Gespräch mit undurchdringlicher Miene verfolgte. Roxy konnte kaum glauben, was sie da hörte. Und dennoch legte die Ungeduld, mit der Naamah auftrat, die Vermutung nahe, dass es die Wahrheit war. Höchstwahrscheinlich war Marin tatsächlich schon tot gewesen, als Naamah ihn gefunden hatte. Roxy war sich hingegen hundertprozentig sicher, dass sie den Galgenvogel lebend zurückgelassen hatte. Sollte noch jemand anderes dazwischengefunkt haben? In dem Fall hätte es nur ein Seelensammler sein können. Roxy wusste nicht, wer sonst imstande wäre, sich dort sowohl von ihr als auch von den Feuerdämonen unbemerkt einzuschleichen. Und wenn es ein Seelensammler gewesen war, der Marin zum Schweigen gebracht hatte, musste man dann nicht davon ausgehen, dass Dagan von dieser Aktion wusste?
Roxy blickte von Naamah zu Dagan und zurück. Wem konnte sie überhaupt noch trauen?
13. KAPITEL
Sie ist eine Flamme, die Osiris folgt und die seine Feinde verzehrt.
Nach dem Ägyptischen Totenbuch
D u streitest also ab, Marin getötet zu haben?“, fragte Roxy.
Naamah war sichtlich ungehalten. „Was heißt abstreiten? Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, ein wenig mit ihm zu plaudern. Leider hast du mich darum gebracht. Dafür bin ich dir eigentlich noch eine Abreibung schuldig.“
„Das kannst du ja gern mal versuchen“, meldete sich Dagan zu Wort.
Roxy horchte auf. Was war das? War der weiße Ritter in schimmernder Rüstung plötzlich aufgetaucht, um sie zu retten? Oder ging es nur darum, dass sie etwas hatte, was für Dagan von großem Interesse war? Woran offenbar alle hier Interesse hatten?
Noch einmal testete Roxy die Belastungsfähigkeit ihres Fußgelenks. Es ging nicht allzu gut. Sie fühlte sich, als wäre sie wie ein Spanferkel gegrillt worden. Trotzdem trat sie vorsichtig den Rückzug an, während ihr noch all die Fragen im Kopf herumschwirrten, auf die sie unbedingt eine Antwort haben musste. Anscheinend wollte jeder in der Unterwelt ein Stück von Dana haben. Aber warum? Sie brauchte Antworten, und sie brauchte sie schnell. Das hatte ausnahmsweise nichts mit ihren Aufträgen zu tun. Sie fühlte sich verantwortlich. Sie hatte so etwas wie eine persönliche Beziehung zu diesem Kind.
Nicht dass ihr an Kindern besonders viel lag. Im Gegenteil. Jobs, in denen Kinder eine Rolle spielten, waren ihr seit jeher verhasst. Es ging so weit, dass sie einen großen Bogen um Kinos machte, in denen eine Kindervorstellung anfing,und dass sie Einkaufspassagen zu Zeiten mied, in denen besonders zahlreiche Mütter mit ihren Kinderwagen unterwegs waren. Aber mit diesem Mädchen war es etwas anderes.
Es erinnerte sie daran, wie es gewesen war, als sie selbst fünf Jahre alt gewesen war, als plötzlich ihre Mutter verschwunden und sie in ein Leben geworfen worden war, dessen dunkelste Seiten sie kennenlernen sollte – ohne Aussicht, einmal die lichteren zu sehen.
„Du gehst zu weit, Reaper“, fauchte Naamah, indem sie den Blick aus gespenstisch leuchtenden Augen auf Dagan richtete.
Amüsiert zog er die Augenbrauen hoch. „Zu weit? Das sagst du mir? Vae victis .“
„Was soll das? Weißt du noch, was du redest?“
Er packte ihr Handgelenk. „ Vae victis . Wehe den Besiegten.“ Während er das sagte, gab er Roxy ein Zeichen.
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