Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
Lauf durch das unwegsame Gelände gehörte zu ihrem regelmäßigen Training. Sie kannte hier buchstäblich jeden Baum und Strauch, und das hatte sie den Verfolgern voraus.
Tatsächlich konnte Roxy hören, wie ihr Vorsprung sich ein wenig vergrößerte. Aber sie hatte immer noch keine Vorstellung, wie viele und wie schnell sie tatsächlich waren. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass es ihr gelang, sie abzuhängen. Außerdem hatte sie das Ende des Wäldchensgleich erreicht. Dahinter lag nur noch freies Feld. Sie wäre ohne jede Deckung.
Kurz blieb sie stehen, hob einen größeren Stein auf und schleuderte ihn so weit sie konnte ins Dickicht – in der Hoffnung, durch das Geräusch des Aufpralls die Feuergeister abzulenken. Dann streckte sie sich, griff nach einem tief hängenden Ast, schwang sich wie eine geübte Turnerin hinauf und kletterte behände höher. Sorgsam jedes Geräusch vermeidend, drehte sie sich um, als sie weiter oben angekommen war, und spähte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Nichts regte sich.
Roxy kletterte ein Stück höher und suchte Deckung in den Zweigen. Da sie auf einer kopflosen Flucht kaum Chancen hatte zu entkommen und es andererseits auch zu riskant war, den offenen Kampf zu suchen, blieb ihr als einzige Möglichkeit, sich zu verstecken. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, mit ihrer übersinnlichen Wahrnehmung ihre Umgebung aufzunehmen, um zu prüfen, wo in der Nähe Schwingungen zu spüren waren.
Da war so etwas wie ein Luftzug, obwohl es vollkommen windstill war. Irgendetwas Verdächtiges hatte sich geregt. Roxy wagte kaum zu atmen. Sie fühlte sich wie in einer Mausefalle. Zudem wurde ihr schmerzlich bewusst, wie lange es schon her war, dass sie ihre Kräfte aufgetankt hatte. Das letzte Mal waren die paar Tropfen Blut gewesen, die sie sich von Frank Marin genommen hatte. Das Tröpfchen, das sie Dana geraubt hatte, fiel eh nicht ins Gewicht. Sie wusste, dass sie ohne eine gewisse Dosis nur die Hälfte wert war. Der Vorteil war, dass sie so aber auch für andere, die wie sie ein Sensorium für übernatürliche Kräfte hatten, nicht so leicht auszumachen war.
Die Signale, die Roxy empfing, wurden stärker und kamen näher. Sie rührte sich nicht. Nur ihre Augen bewegten sich, aber viel zu sehen gab es nicht. Der Himmel war bedeckt, sodass sich weder Mond noch Sterne zeigten, und im Wäldchen war es ohnehin stockdunkel. Fürs Erste genügte Roxy ihr inneres Radar, mit dem sie die herannahende Gefahr genau orten konnte. Dann entdeckte sie den Feuerdämon unter sich, zu ihrer Linken. Es war nur eine von Xaphans Gespielinnen. Die anderen wurden offenbar noch von Dagan aufgehalten. Wieder musste Roxy einen Anflug von schlechtem Gewissen abwehren, aber der ging schnell vorüber.
Die Feuerbraut hob den Kopf und schien wie ein Tier Witterung aufzunehmen. Dann wandte sie sich langsam, aber genau in Roxys Richtung um. Gleich musste es so weit sein, gleich konnte Roxy dem Kampf nicht mehr ausweichen. Was hatte Dagan über diese Furien gesagt? Rauch und Feuer. Sofort hatte sie seine brennende Hand wieder vor Augen, und wieder wurde ihr schlecht, wenn sie an den grauenvollen Anblick dachte.
Der Dämon war jetzt nur noch einen Schritt von dem Baum entfernt, auf dem sie hockte. Roxy spannte die Muskeln an und machte sich zum Absprung fertig. Sie war bereit, ihr Leben mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Dann hörte sie zum zweiten Mal den Teekesselpfiff, der vom Haus her kam, nur dass er jetzt längst nicht mehr so kräftig, sondern fast ein wenig kläglich klang. Für ein paar Sekunden herrschte gespannte Stille, dann kehrte der Feuerdämon unter ihr um und machte sich davon.
Roxy unterdrückte das Seufzen und sank gegen die Borkenrinde des Baumstamms hinter ihr. Dass sie so wenig Energie ausstrahlte, war in diesem Fall ihr Glück gewesen. Langsam zählte sie bis zwanzig, um ihren Puls herunterzufahren. Dann holte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte.
„Es hat sich etwas ergeben“, erklärte sie, als sich Calliope am anderen Ende der Leitung meldete. „Ich muss dich bitten, das Mädchen noch einmal umzuquartieren, ohne dass irgendjemand davon erfährt – in eine andere Stadt, am besten in eine andere Provinz. Ich erkläre dir später alles.“
Nachdem sie die Verbindung beendet hatte, starrte sie lange Zeit ins Dunkel, um festzustellen, ob sich in dem Wäldchen noch etwas rührte. Es war weder etwas zu sehen noch zu hören.
Erleichtert ließ sie
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