Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
Herz mit Grauen.
„Roxy!“ Der Ruf klang wie ein scharf erteilter Befehl und holte sie ins Leben zurück. Aber nicht für lange. Wieder hatte sie ein Bild vor sich. Dieses Mal war es das Gesicht von Rhianna, und die Erinnerung kam wieder hoch. Der Schmerz war noch ganz frisch. Ihr war, als fühlte sie noch das Kissen in den Händen. Es tat mindestens genauso weh wie die Wunde, die in ihrer Brust klaffte. Und mitten in dieser qualvollen Erinnerung wurde ihr mit einem Mal sonnenklar: Jetzt war sie diejenige, die im Sterben lag.
„Roxy! Du wirst nicht gehen. Bleib hier!“ Dagan schrie sie regelrecht an.
Roxy schlug die Augen auf. „Blut …“ Eine einzige lächerliche Silbe auszusprechen kostete sie unfassbare Anstrengung.
Dagan verstand nicht, was sie wollte. „Ja, du hast eine Menge Blut verloren. Ich tu mein Bestes, um es zurückzuhalten. DeineRippen sind gebrochen, und dein linker Lungenflügel ist zusammengefallen. Du musst ganz ruhig liegen bleiben.“
Er hockte auf ihr und drückte gegen ihre Brust. Sie wollte ihn wegschieben, weil sie sowieso kaum Luft bekam. Jeder Atemzug, ja, jeder Pulsschlag wurde ihr zur Qual. Wie ein gewaltiger Schatten zeichnete er sich über ihr gegen das spärliche Nachtlicht ab, das durch die Baumkronen drang. Sie sah ein Schimmern in seinem Haar, und seine Augen funkelten böse. Oder vielleicht doch nicht böse. Sie konnte den Ausdruck nicht deuten.
Sie wollte, dass er mit dem aufhörte, was er tat. Es war alles viel zu anstrengend. Aber Dagan schrie sie wieder an: „Du wirst jetzt nicht sterben! Ich bin noch nicht fertig mit dir.“
Es war erneut wie ein Weckruf. Roxy nahm noch mal alle Kraft zusammen. Vergeblich versuchte sie, mit der Zunge ihre Lippen zu befeuchten, und genauso vergeblich kämpfte sie gegen ihre Verzweiflung an. Das durfte alles nicht wahr sein. In ihren Albträumen war Dagan derjenige gewesen, der ihr das Herz herausgerissen hatte. Es war verrückt, aber es machte ihr ernstlich zu schaffen, dass nun ein anderer Reaper danach gegriffen hatte.
Warum hatte er sie überhaupt angegriffen? Er hatte das Zeichen der Isisgarde gesehen – nein, das war nicht richtig. Er hatte danach gesucht, als hätte er gewusst oder geahnt, dass es da sein musste.
Wie auch immer. Dann hatte er es entdeckt. Für ihn war der Fall klar. Sie gehörte ins feindliche Lager, und entsprechend hatte er gehandelt. Das brachte sie erneut auf die Frage, warum Dagan nicht längst genauso gehandelt hatte. Warum ließ er sie am Leben? Warum hatte er ihr vor Jahren das Leben gerettet, in dieser Nacht gemeinsam mit ihr gegen die Feuerdämonen gekämpft und war jetzt wieder bemüht, ihren Tod abzuwenden?
Roxy wollte die Hand heben, um ihn näher zu sich heranzuholen, aber sie schaffte nicht mehr, als ein paar Finger zu bewegen. Trotzdem schien Dagan das Zeichen verstanden zu haben. Er beugte sich zu ihr. Sein Haar fiel nach vorn und strich ihr über die Wange. Sie konnte seine Haut riechen, vor allem aber das Blut aus seinen zahlreichen Verletzungen, nach dem ihr Körper ungestüm verlangte. Ein weiteres Mal schwanden ihr die Sinne.
Sie brauchte sein Blut. Sie musste sich ihm verständlich machen. Vor zwei Stunden noch hatte sie sich gefragt, was sein Blut, wenn sie es trank, mit ihr anrichten würde. Aber jetzt ging es nur noch ums nackte Überleben. Alles andere war egal.
Um seine Aufmerksamkeit zu erzwingen, sah sie ihn eindringlich an und formte mit den Lippen die Worte: „Ich brauche Blut“. Mit einer Zungenbewegung unterstrich sie die stumme Bitte. Sie flehte ihn mit ihrem Blick an, sie endlich zu verstehen. Es schien endlos zu dauern, bis schließlich eine Reaktion von ihm kam.
„Du willst Blut?“, fragte er leise. Aber noch tat er nichts. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, obwohl sein Zögern vielleicht nur Sekunden währte. Oder tat er nichts, weil er gar nicht wollte, dass sie überlebte? Hatte er sich von Gahiji doch beeindrucken lassen?
Lange konnte sie nicht mehr warten. Ihre Kräfte schwanden bedrohlich. Für einen Moment war sie ganz weggetreten, bis sie wieder Dagans Stimme hörte. Dicht vor ihrem Gesicht brüllte er sie an: „Du wirst jetzt, verdammt noch mal, nicht sterben! Mach die Augen auf! Sieh mich an!“
Roxy versuchte es, so gut es ging. Es kam ihr vor, als sähe sie einen Film, der von einem Anfänger stümperhaft aufgenommen war, dem es nicht gelungen war, die Linse scharf zu stellen. Das Atmen, das ohnehin mehr ein verzweifeltes Nach-Luft-Schnappen
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