Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
Ton.
Gahijis Gesicht erstarrte zu einer maskenhaften Grimasse. Dann lockerte er den Griff um Roxys Herz ganz und zog die Hand zurück. Ein Strom von Blut schoss aus der riesigen Wunde, die er hinterließ.
Roxy war jetzt völlig in sich zusammengesunken und wurde nur noch von Alastor und Dagan gemeinsam gehalten. Schlaff wie ein Sack hing sie zwischen ihnen.
„Nimm ihn und schaff ihn mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse“, presste Dagan an seinen Bruder gewandt hervor.
Roxy erreichten diese Worte wie aus weiter Ferne, irgendwoher, wo es nur Schmerzen und Dunkelheit gab. Sie erkannte Dagans Stimme. Sie klang jedoch merkwürdig blechern und hohl, als käme sie aus einem langen Tunnel.
Etwas dicht neben ihr bewegte sich, und sie versuchte, es wegzustoßen, aber ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Es war, als wären sie schwer wie Blei. Sie konnte sich keinen Millimeter rühren. Ganz allmählich kam sie wieder zu Bewusstsein. Sie lag flach auf dem Rücken und hatte das Gefühl, als wäre ein Güterzug über sie hinweggerast. Sie roch den Waldboden, feuchte Erde und fauliges Laub. Roxy fühlte sich dem Tode nahe.
Mit Mühe drehte sie den Kopf, um sich zu vergewissern, dass Dagan da war. Sie brauchte einen Halt.
Jemand hatte gesagt: „ Sie ist eine Isistochter. “ Sie hatte die Stimme noch im Ohr. Sie gehörte dem Reaper, dessen Faust wie ein Blitz in sie eingeschlagen war. Gahiji hatte Dagan ihn genannt. Sie kannte diesen Namen. Das Wort bedeutete Jäger, Sucher.
Woher kannte sie den Namen? Sie kam nicht darauf und war auch zu müde, weiter darüber nachzudenken. Ihr warkalt. Und es kostete sie so viel Kraft, einen klaren Gedanken zu fassen, Kraft, die sie nicht mehr hatte.
„Was ist in dich gefahren, Gahiji? Sie bedeutete keine Bedrohung für uns.“ Der Mann, der das sagte, sprach mit einem ausgeprägten britischen Akzent. Es klang härter und schärfer artikuliert als das Englisch, das sie gewohnt war zu hören. Dann erinnerte sie sich, während ihre Gedanken immer wieder verschwammen. Es musste der dritte Seelensammler sein.
„Sie gehört zur Isisgarde. Das ist Bedrohung genug.“ Wieder Gahiji, der Jäger. Der sie jagte – nein, das war nicht richtig. Er war hinter jemand anderem her. Roxy ärgerte sich. Wie ein D-Zug rasten die Gedanken ihr durchs Hirn, aber sie konnte keinen richtig festhalten. Es war, als müsse sie sich durch ein dichtes Netz von Spinnweben kämpfen.
„Tu mir einen Gefallen und schaff ihn weg, Alastor.“ Das war Dagans Stimme, dicht neben ihr. Er war wütend, kurz vorm Explodieren.
„Und wo hin?“
„Mir egal. Bloß weg. Seht nach den Setnakhts, findet heraus, was es mit Frank Marin auf sich hat. Danach könntest du zu Xaphan gehen, um die Wogen zu glätten, damit das Debakel, das hier passiert ist, nicht noch zu irgendwelchen Verwicklungen führt.“
Roxy versuchte, die Augen zu öffnen. Oder waren sie schon offen, und sie konnte nicht sehen? Es mussten Dagans Hände sein, die ihr den Brustkorb zusammenquetschten. Es tat höllisch weh, und sie versuchte, die Hände wegzuschieben, aber sie war zu schwach dazu und gab es auf. Sie ließ ihn machen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er in diesem Augenblick ihr geringstes Problem darstellte.
Sie nahm den süßlichen, metallischen Geruch von Blut wahr, aber ohne dass dieser Duft sie lockte. Das konnte nur bedeuten, dass es ihr eigenes Blut war.
Roxy hörte weiter Stimmen, die dumpf und zornig klangen, konnte die Worte jedoch nicht verstehen. Vielleicht waren sie auch gar nicht mehr da und existierten nur in ihrem Gedanken. Vielleicht befand sie sich längst an einem Ort, an dem nur Kälte, Leere und Stille herrschten.
Das Bild ihrer Mutter stand ihr mit einem Mal vor Augen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie sah etwas in ihrer Hand glitzern, dann spürte sie die silberne Kette um ihren Hals. Wieder war da eine Stimme, eine männliche Stimme, die ärgerlich klang, die sie nicht mochte und die ihr Angst machte. Einen Augenblick später verblassten die Bilder, die Stimmen verstummten, und es wurde dunkel.
Wie lange sie so weggetreten war, wusste Roxy nicht. Sie erinnerte sich nur an ein schreckliches Gefühl in der Brust, als würde jemand sie mit Messern bearbeiten oder eher noch, als ginge eine Motorsäge kreischend durch ihre Knochen. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Ihr fehlte der Atem, den Schrei herauszulassen. Er blieb gleichsam in ihr stecken, dröhnte in ihrem Kopf und erfüllte ihr
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