Herzenstimmen
ignorierte all meine Proteste und eilte voran.
12
I ch war gespannt, ob mein Bruder sein Haus renoviert oder umgebaut hatte. Mit dem Geld, das ich ihm geschickt hatte, hätte er es sicher komplett neu bauen können.
Wir liefen einen schmalen Pfad zum Fluss hinunter, der gesäumt war von Papayabäumen und Bananenstauden. U Ba machte mehrere Pausen, um kurz Luft zu holen, meinen Rucksack durfte ich trotzdem nicht tragen. Eine Holzbrücke führte über das Wasser, wir kletterten eine steile Böschung hin auf, gingen an Hütten vorbei, die aussahen, als würde der nächste Regenschauer sie fortspülen. Die schiefen Wände und Dächer waren aus getrockneten Palmenblättern, Bambus und Gräsern geflochten. Auf manchen Höfen brannten Feuer, senkrecht stiegen weiße Rauchsäulen in den Abendhimmel. Überall spielten Kinder, die kurz verstummten und uns neugierig musterten, sobald sie uns entdeckten.
Das Haus meines Bruders lag versteckt hinter einer gewaltigen Bougainvilleahecke, die über und über mit roten Blüten bedeckt war und selbst die Pforte überwucherte. Mühsam bahnten wir uns einen Weg in seinen Garten. Sein Haus stand auf einein halb Meter hohen Stelzen, war aus schwarzem Teakholz, hatte ein Wellblechdach und eine schmale Veranda. Unter dem Haus suhlte sich ein Schwein. So wie ich es in Erinnerung hatte.
Wir stiegen die Stufen zur Veranda hoch. Auch im Inneren des Hauses hatte sich auf den ersten Blick nichts verändert. Der braune Ledersessel war noch da, die beiden Sofas mit den verschlissenen Bezügen, ein Kaffeetischchen, der dunkle Schrank, selbst das Ölbild mit dem Tower in London gab es noch. Neu war ein roter Altar an der Wand, auf dem ein Foto von Mi Mi stand und eines von Tin Win in New York, das ich U Ba geschickt hatte. Vor den Bildern lagen rote Hibiskusblüten und etwas Reis. Wenn ich mich nicht täuschte, hing an dieser Stelle bei meinem letzten Besuch ein Buddha. Ich überlegte, in welchem unausgepackten Umzugskarton mein gerahmtes Foto unseres Vaters wohl liegen mochte.
Mir fielen mehrere Plastikeimer auf, die scheinbar wahllos in den Zimmern herumstanden. Ich schaute mich suchend nach dem Bienennest um.
»Wo sind die Bienen geblieben?«
»Sie sind bedauerlicherweise weitergezogen und haben sich ein anderes Zuhause gesucht«, erklärte mein Bruder und stellte den Rucksack ab.
Ich seufzte erleichtert.
»An ihrer statt zogen zwei Schlangen ein.«
Ich erstarrte. »Zwei was?«
»Zwei Kobras.«
»Das meinst du nicht ernst.«
Er blickte mich verwundert an. »Wir haben uns das Haus geteilt.«
»U Ba! Kobras sind extrem giftige Schlangen. Ein Biss, und du bist tot.«
»Sie haben mir nichts getan«, erwiderte er ruhig und offenbar erstaunt, worüber ich mich so aufregte.
»Wo sind sie jetzt?« Am liebsten wäre ich auf den Tisch vor dem Sofa gesprungen.
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?« Ich war kurz davor, hysterisch zu werden.
»Irgendwann sind sie verschwunden.«
»Verschwunden? Was heißt verschwunden? Wann hast du sie das letzte Mal gesehen? Letzte Woche? Vor einem Monat?«
U Ba überlegte angestrengt. »Ich bin mir nicht sicher. Du weißt ja, die Zeit spielt in meinem Leben keine so große Rolle. Ein Jahr wird es her sein. Vielleicht auch zwei.«
»Das heißt, sie sind jetzt nicht mehr da?«, versicherte ich mich.
Meine Fragen verwirrten ihn zusehends. »Ja, das heißt es. Was sonst?«
Ich atmete ein wenig auf. »Hattest du keine Angst?«
»Wovor?«
Mein Bruder kokettierte nicht. Ihm war meine Furcht wirklich fremd. Ich sah es in seinen Augen. Kleine, braune, Ich-würde-so-gern-verstehen-was-sie-meint-Augen.
»Wovor? Gebissen zu werden. Zu sterben.«
Er dachte noch einmal lange über seine Antwort nach. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, davor hatte ich keine Angst.«
Ich glaube, ich beneidete ihn.
»Du wirst selbstverständlich in meinem Bett schlafen.« Er zog einen grünen, verwaschenen Vorhang beiseite und zeigte mir einen kleinen Raum mit einem Holzgestell, einem Nachttisch, einem Stuhl. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, deren Licht flackerte. »Ich habe sogar eine Matratze«, erklärte er stolz. »Mein größter Luxus.«
Er ließ den Vorhang wieder zurückgleiten. »Jetzt mache ich uns einen Tee.«
Er ging in die Küche, ich folgte ihm. In einem offenen Schrank standen ein paar weiß emaillierte Blechnäpfe und Teller. Im untersten Regal lagen Eier, ein paar angeschimmelte Tomaten, Knoblauch, Ingwer und Kartoffeln. In einer Ecke
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